Sterblich sein

„Déformation professionelle“ nenne ich es bisweilen, dieses Interesse am Tod, das mich umtreibt. Als Mitarbeiterin einer Pflegeeinrichtung entbiete ich an einem erheblichen Anteil meiner Arbeitstage jemandem mein herzliches Beileid, informiere darüber, wie es nach dem Ableben eines Menschen weitergeht. Und das betrifft dann nur den faktischen Prozess des Umgangs mit einem Leichnam, aber ganz allgemein ist das Vorher und – etwas weniger – das Nachher, das Rundherum um das Lebensende mein beruflicher Lebensinhalt.

Daher wollte ich sehr gerne diese Ausstellung sehen, sie ist klein und fein und auch an einem Frühlingstag mit hohem Tourist*innen-Aufkommen in der Innenstadt nicht sehr stark besucht, sie läuft noch bis weit in diesen Sommer hinein. Das Dom Museum ist nämlich zum Glück nicht nur das wichtigste Museum Österreichs für historische Sakralkunst, sondern verfügt auch über eine Sammlung der Moderne und der Avantgarde und zeigt diese Werke auch in Ausstellungen wie dieser, schön kuratiert und mit Bezug zur menschlichen Lebens- und Erfahrungswelt auch abseits eines engen christlichen Bezuges.

Gleich willkommen geheißen werde ich von dieser hübschen Installation, stiller Abtrag von Sybille Loew, die mich sofort interessiert, denn ich könnte hier unmittelbar einen Bezug zu meiner Arbeit finden.

Die Künstlerin hat 200 Namen von den rund tausend Verstorbenen, die im Jahr 2022 nach dem Wiener Leichen- und Bestattungsgesetz ein sogenanntes Armen- oder Sozialbegräbnis erhalten haben, zusammen mit ihren Todestagen und ihrem Alter auf weiße Fähnchen gestickt und lässt sie mit einem roten Lebensfaden, der nun abgeschnitten ist, von der Decke hängen. Etwa zwei bis dreimal pro Jahr melde auch ich einen solchen Todesfall bei der Behörde an, es sind Menschen, die entweder keine Angehörigen haben, die für sie eine Bestattung in Auftrag geben oder deren An- und Zugehörige diese (auch finanzielle) Verantwortung nicht übernehmen wollen oder können. Das bedeutet also, dass nicht alle diese Menschen ganz ohne soziales Netz und allein waren, eigentlich nur, dass es wohl auch viele gab, deren Verwandte und Bekannte sich die teure Beerdigung nicht leisten konnten, nicht einmal in der Vorfinanzierung, bis Begräbniskosten im Nachlass bevorzugt behandelt werden. Über den Termin der Beisetzung in einem Grab, dessen Ort man sich in diesem Fall eben nicht aussuchen kann, können sich Angehörige nämlich schon informieren lassen.

Eine Weile suche ich unter den Namen nach mir bekannten Bewohner*innen des Jahres 2022, ich hätte mich bestimmt erinnert, wenn ich einen gefunden hätte, aber ich finde niemanden. Ich traue mich nicht, die sich sachte im Luftzug bewegenden Fähnchen zu berühren, um sie zu mir zu drehen, wenn ich sie nicht lesen kann, denn es ist ja ein Kunstwerk.

Am Empfang der Ausstellung das sehr schön gestellte Zusammentreffen dieser beiden Frauenfiguren, das Bild von Alexandre Diop, Ce n’est qu’un au revoir zusammen mit der weinenden Maria des Bildhauers Giovanni Giuliani, die sich vor der Passion Jesu von ihm verabschiedet. Beide zelebrieren den Abschied auf ihre Weise, Maria mit kunstvoll geschwungener Körperlinie, die Frauenfigur auf dem Bild mit direktem herausforderndem Blick, mit raumgreifender Gestik und Durchsicht auf ihr Inneres.

Ein weiterer etwas desillusionierender Kommentar für meine Arbeit, eine kleine Druckgrafik von Alfred Kubin aus 1903, Der beste Arzt.

Alles das ist nur die Vorbereitung für den nächsten Raum, wo es richtig ans Eingemachte geht, ans Lachen und Weinen. Ein großartiger Kunstgriff, ein Protestplakat gegen den Tod, angesichts der schieren, kindisch anmutenden Sinnlosigkeit des Sujets muss ich kichern und der Künstlerin Orlan meinen großen Respekt zollen, dass sie es uns so deutlich vor Augen führt.

Vor mir liegt ein hüfthoher Stapel mit Plakaten, die zur freien Entnahme sind, ich nehme an, dass kaum jemand wirklich eines mitnimmt. An der Decke über dem Plakat hängt auch ein Bildschirm mit Orlans Gesicht und Schriftzügen und man kann sich auf Kopfhörer anhören, wie jemand lauthals gegen den Tod protestiert: „Je ne veux pas mourir!“ (Irritierenderweise ist meine erste gedankliche Assoziation zu dem Plakat die Klimaprotestbewegung, die ähnlich verzweifelt und aussichtslos erscheint, das lässt mich ein wenig vor mir selbst erschrecken.)

Und gleich darauf kommen mir dann die Tränen, das erste Mal bei diesem Porträt einer großartigen Serie, die ich bereits kannte, das Buch- und Ausstellungsprojekt Noch mal leben von Beate Lakotta und Walter Scheels, die Menschen während ihrer letzten Tage in Hospizen begleitet und vor und nach ihrem Tod fotografiert hatten. Den Kontrast zwischen den lebenden Gesichtern und den entspannten friedlichen Gesichtern im Tod empfinde ich als so tröstlich, und auch die sensibel erzählten Geschichten dazu geben einen kurzen, aber umfassenden Eindruck der Person und der Umstände ihres Lebens und Sterbens. Wie ihnen im Leben alle Erfahrungen ins Gesicht geschrieben scheinen und wie glatt und unbeeinflusst sie im Tod wirken, alles Zeichnende ist gewichen, nur noch die Schwerkraft und die Ruhe sind übrig.

Das zweite Mal weine ich bei diesem unscheinbaren kleinen Porträt einer älteren Dame, es ist die Großmutter der Künstlerin Lena Ilay Schwingshandl. Bei dem winzigen Bildchen kann man via Kopfhörer dem ungezwungen-vertrauten Gespräch der Enkelin und der Oma im oberösterreichischen Dialekt lauschen, wie sie sich darüber unterhalten, ob und warum sie dieses Bild für ihre Parte auswählen würde. Es berührt mich, dass sich diese beiden Frauen so sehr lieben und wie sie so zärtlich und unprätentiös miteinander sprechen, ich beneide sie ein bisschen, dass sie diesen Moment festhalten konnten, obwohl ich auch ganz nüchtern vermuten kann, dass die ältere Dame inzwischen auch verstorben ist und dann fühle ich mich wieder der jüngeren Frau nahe in der Trauer und im Vermissen.

Ein schweres und ein leichtes Bild vom Tod stellen diese Exponate gegenüber, einerseits die Pietá des australischen Künstlers Sam Jinks, eine extrem realistische Darstellung eines jungen Mannes, der einen älteren leblosen Mann im Arm hält, im Stil der Pietá Michelangelos. Es ist kaum zu ertragen, dem jungen Mann ins so lebensecht gestaltete Gesicht zu sehen, ich bin erleichtert, dass er die Augen niedergeschlagen hat und so verinnerlicht wirkt.

Und mit viel versöhnlicher Leichtigkeit trägt mich dann dieses Schiff aus Stoff und Perlen durch Zeit und Raum davon, Transporter to Another Time von Nomin Bold, eine Künstlerin mit mongolischen Wurzeln, vor einem Bild des Schwebens zwischen den Zuständen, Life After Life 6 des nigerianischen Künstlers Ameh Egwuh.

Die Kurator*innen der Ausstellung wollen uns die Prunkstücke des Dom Museums doch noch zeigen und lotsen uns verstohlen durch den Raum, wo sich das Grabtuch von Rudolf dem Stifter und sein Porträt befinden, das als ältestes Dreiviertelansicht-Porträt des Abendlandes gilt. Erst dahinter gelangt man noch in einen kleinen Raum, zu der sehr intimen, meditativen Gelegenheit, der eigenen Verstorbenen im Stil der Installation von ganz zu Beginn zu gedenken. Es sind so viele Kärtchen aufgehängt, dass keine Schnüre mehr frei sind, noch mehr Kärtchen sind schon beschrieben und warten darauf, noch angebunden zu werden. Auf den Kärtchen stehen sehr persönliche Worte des Abschieds und der Sehnsucht, Sätze wie „Ich vermisse dich so sehr, lieber Opa“ und „Es gibt keine Gerechtigkeit“.