20240105

Ich stelle fest, ich bin gern in der Gesellschaft von Männern, die etwa eine halbe Generation jünger sind als ich. Das Schäkern ist mit einer gewissen Ehrerbietung durchsetzt, das Erobern-Wollen wird nur noch höflich angedeutet und muss nicht mehr ernst genommen werden. Man kann sich einfach erfreuen an der Gegenwart intelligenter oder zu einem bestimmten Thema gebildeter und/oder erfahrener Menschen, no need for shame or shyness. Sehr entspannend.

Erster Mai und ich werde definitiv heute nicht und vermutlich auch nie mehr (so es friedlich bleibt) an irgendeinem Aufmarsch teilnehmen. Die Erinnerungen an letztes Jahr, als ich versuchte, an diese Tradition anzudocken, beschränken sich auf die recht öden Massenformalismen, die dazu offenbar Standard sind, und die allgegenwärtigen Aufmarschzüge, motorisierte Straßenbahnen, die die fußmaroden Sozialdemokrat*innen auch der weiter entfernten Bezirke bequem zum Fluchtpunkt aller sozialdemokratischen Routen, Ideen und Visionen, dem Wiener Rathaus brachten. Ich war nicht ergriffen und muss dieses Erlebnis nicht wiederholen, sondern werde, wie all die vielen Jahre zuvor in dieser Stadt und wenn in meinem schlafgestörten menopausalen Zustand noch möglich, versuchen noch ein Schläfchen unterzubringen.

Überhaupt fällt mir diese Art der Selbstvergewisserung ein wenig schwer. Ein sich gegenseitig mit wissender Miene Zunicken, dass wir eh die Guten sind und die anderen die Unwissenden, die Verkennenden, die man nur auf den rechten (im Sinn von richtigen!) Pfad zurückholen müsste. Das sorgenvolle Stirnrunzeln, das „Das-kann-man-doch-nicht-zulassen“. Nicht dass ich eine Alternative wüsste. Oder dass ich die Bemühungen von irgendwem um Selbstaktualisierung und Vernetzung schmälern wollte. Nicht dass ich nicht auch gerne Verbundenheit und Zugehörigkeit spüren würde. Es fällt nur zunehmend schwerer zu glauben, dass sich die jetzige Situation durch die immer gleichen Wege und Techniken der Kooperation oder der Repräsentation beeinflussen ließe, dass das Sich-Gegenseitig-Zunicken und Sich-Dann-Hedonistisch-Selbst-Abfeiern irgendein erreichbares Ziel verfolgen könnte. Ja, man darf mich dafür des doomerism gone politics zeihen. Das Kämpfen ist zum Schattenboxen geworden und kostet trotzdem so viel Kraft, wobei die Vermutung naheliegt, dass das noch gar nichts war im Vergleich zu dem, was kommt.

In der Nacht dann noch Zuflucht bei Ingeborg gesucht, vielleicht ist sie wieder - wie so oft schon - ein guter Anknüpfungspunkt:

In die Mulde meiner Stummheit

leg ein Wort

und zieh Wälder groß zu beiden Seiten,

daß mein Mund

ganz im Schatten liegt.