20241017
Gestern kam ein junger Mann in mein Büro. Jünger als die Angehörigen im fortgeschrittenen Alter, die sonst zu mir kommen, die Kinder der Hochbetagten, die selbst meist bereits kurz vor dem Pensionsalter sind. Er war tätowiert, und zwar von der Sorte „Körperstellen, die deutlich machen, dass mir jegliche Repräsentationsfähigkeit in einem etwaigen Job völlig wurscht ist“ und seine Ohrläppchen waren ausgeweitet auf schlaffe Ringe von diesen großen Scheiben, die zum Glück wieder etwas aus der Mode gekommen sind. Sonst ein hübscher Kerl, wache Augen.
Er fragte mich nach der Todesursache seines Großvaters, der vor längerer Zeit nach sehr kurzem Aufenthalt mit weit über 80 Jahren bei uns verstorben war. Ich kenne diese Frage schon und kann sie meistens nicht beantworten, wenn sie mir gestellt wird. Es bleibt bei uns kein Dokument zurück, auf dem eine Todesursache im engeren Sinne angeführt ist. Vielleicht gibt der*die Beschauärzt*in eine Todesursache in der Anzeige des Todes an, die wird aber letztendlich nicht bei uns archiviert, sondern am Standesamt. Natürlich habe ich Zugang zu einigen Befunden, in denen die Diagnosen zu Lebzeiten angeführt waren (meistens eine Liste über mind. eine Seite) und der Datenschutz gilt für Verstorbene auch nicht mehr. Aber die definitive Todesursache kann man da auch nicht herauslesen. Ich formulierte es auf die einfachste Weise, die mir möglich war: „Er war einfach alt! Er ist am Alter gestorben.“
Ich sprach ein wenig mit dem jungen Mann. Er sagte, er sei vom Tod des Großvaters nicht informiert und auch nicht zum Begräbnis eingeladen worden. Ich fragte ihn, was denn das Ziel seiner Frage sei, was er glaube, dass er mit der Todesursache herausfinden könne. Das brachte ihn ein wenig zum Nachdenken, sein sonst starr auf mich gerichteter Blick schweifte ein wenig ab. Seine Familie schließe ihn aus, wolle ihn „vernichten“, er würde überall „abgeschasselt“ und weggeschickt. Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht wegschicken wolle, ich hatte ihm aber nichts zu geben, was ihm helfen würde. Ich sagte ihm, dass ich dächte, dass das einzig Sinnvolle ein Gespräch mit seiner Familie, eine Aussprache sein könnte, aber das kam für ihn nicht in Frage. Ich kannte niemanden aus dieser Familie näher, ich konnte mich nicht erinnern, dass jemand von den Angehörigen in einen intensiveren Austausch mit uns gekommen war, mit manchen Familien ist das ja völlig anders, weil die sich Support und Ansprache für alles Mögliche holen.
Als er realisierte, dass er von mir nicht bekommen würde, was er sich erwartete, drohte er mir ein wenig, erwähnte, dass er auch zur Staatsanwaltschaft gehen könne (Eine Variation des „Das geht zum Anwalt!“). Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich unter seinem beleidigten, etwas aggressiven Blick, aber er tat mir auch leid, denn ich konnte nichts für ihn tun. Er sprang schließlich unvermittelt auf und wandte sich zum Gehen, gleichzeitig läutete mein Telefon und ich sah auf die Nummer, musste abheben wegen einer dringend erwarteten Information, konnte wieder keinen Abschied aussprechen, obwohl ich das so gar nicht wollte.