20241023
Soll es mich beunruhigen, dass ich im unteren Rücken immer wieder großflächig ein Kribbeln verspüre? Es kommt und geht, meistens im Sitzen, es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, nicht einmal wirklich unangenehm, so als wäre da etwas eingeschlafen. Bestimmt sind das herkömmliche, häufig vorkommende neurologische Symptome und nur ich, als gerade erst mich ins Altern einfindende Person, gehe davon aus, dass noch nie vorher jemand so unspezifische Symptome irgendwo im Körper in Verbindung mit irgendeiner Erkrankung hatte und mir erst die richtigen Worte dafür einfallen müssen. Wie üblich gibt es für jeden Menschen immer wieder erste Male, mit Entzücken und Freude verbunden bei Kindern, mit wachsender Nüchtern- und Schicksalsergebenheit betrachtet bei Erwachsenen und dann älteren Menschen.
Ich wurde ja auch kürzlich tatsächlich durchuntersucht. Mein großartiger Arbeitgeber ermöglicht die jährliche Gesundenuntersuchung am Arbeitsplatz in der Arbeitszeit, das ist sehr vertrauenerweckend und auch praktisch, also dachte ich, machst du das halt mal. Ich musste trotz Termins eine halbe Stunde warten, das machte mir nichts aus, weil ich die Kollegin kannte, die vor mir dran war und im Wissen um ihre medizinische Vorgeschichte völlig damit einverstanden war, dass sie eine genaue Untersuchung bekam. Zwischendurch stürzte der Arzt mal heraus, er hätte mein Sohn sein können, inzwischen nicht mal mehr besonders knapp. Er wisperte zur Assistentin, es gehe nicht anders, er brauche so viel Zeit, weil alle Patient*innen so schwierig seien. Er muss erst lernen, dass Patient*innen selbstverständlich niemals „schwierig“ sind sondern maximal „herausfordernd“ oder auch nur „fordernd“. Ich wappnete mich innerlich ein bisschen und war froh, dass ich nicht bereits irgendeine Krankengeschichte mit mir herum und vor mir her tragen musste.
Ich bin sehr gewöhnt an „Es ist alles in Ordnung!“, „Da ist alles im Normbereich!“ und „Bitte wieder zur Kontrolle in einem/zwei Jahren!“ Die Augen sind eine Baustelle, aber allein durch die Tatsache, dass ich regelmäßig neue Kontaktlinsen brauche, bin ich hier sehr gut überwacht und kontrolliert. Auf die Zahn- und Frauengesundheit zu achten ist auch eine Selbstverständlichkeit. Alles darüber hinaus habe ich noch nicht für mich als mögliches Problemfeld erkannt. Der junge, inzwischen hochnervöse Arzt aber galoppierte mit mir durch seinen Anamnesebogen, schickte mich zur Dermatologin wegen der Muttermale und zur Internistin wegen dem Blutbild und der extrem seltenen Erkrankung, die ich in der Familie gehabt hatte und unvorsichtigerweise erwähnte, und er hieß mich ab jetzt dreimal täglich Blutdruck messen, weil der untere Wert leicht erhöht war. Mit Sicherheit vermittelnder Patientenkommunikation war nicht so viel, er strahlte keine dem ärztlichen Habitus entsprechende sonore Ruhe aus. Im Gegenteil, er shuffelte so wild durch die verschiedenen Bögen, dass er mich schließlich fragte, wer aus meiner Familie denn Darmkrebs gehabt habe und ich nur zwischen den Zähnen durchmurmelte, dass das wohl nicht mein Sheet sein könne. Ganz die dienstleistungsgewohnte Betreuungsperson hatte ich noch versucht ihn zu entlasten, ich sagte mehrmals während des Abhörens und Abtastens, dass er zu meinen zaghaft vorgebrachten leichten Beschwerden wohl mit seinen Mitteln keine Diagnosen stellen könne. Ja, nickte er, ja, ich müsse das jeweils fachärztlich abklären lassen, Kreuzchen hier, Kreuzchen da, bitte unterschreiben, danke und auf Wiedersehen!
Nun also kribbelt es hin und wieder. Bandscheibe, Ischias, Verdauung, das viele Sitzen, die Psüüüche, whatever may be the cause. Man könnte jetzt ein bisschen über die Sinnhaftigkeit von Gesundenunterschungen philosophieren, wirklich was entdecken würde man wohl nicht, nur wenn das Blutbild irgendeine grobe Auffälligkeit zeigte. Wahrscheinlich dienen sie hauptsächlich dazu, einen der Patientinneneigenschaft entsprechenden Habitus zu entwickeln, sich ohne Theater Blut abnehmen zu lassen, sich für ein Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt zu wappnen und sich gleichzeitig nicht zu viel davon zu erwarten. Erst jetzt fällt mir nämlich auf, über das Kribbeln habe ich gar nichts erzählt.