20241101

Ich wär‘ gern ruhiger, schrieb ich ins Internet. Stimmt nicht ganz. Ich wäre gerne sicherer. Seit einiger Zeit nistet sich bei mir ein Gefühl der Bodenlosigkeit ein. Es kommt ganz plötzlich, ich werde unerklärlicherweise nervös, ganz alltägliche Pläne in Haushaltsführung und Familienmanagement scheinen mir wie große Herausforderungen, auf die ich mich vorbereiten muss und die einer großen Aufmerksamkeit bedürfen. Eine gewisse starre Ruhe, die vorher über einen langen Zeitraum sehr normal war, stellt sich nicht mehr ein, es hat sich so viel verändert, zum Besseren auch, aber so, dass ich mich immer öfter in der zeitweise erdrückend wirkenden Verantwortung sehe, Zeit zu nutzen, Gelegenheiten zu ergreifen.

Die Zeit wird halt knapp. Wie fülle ich die Zeit, die mir bleibt? Abseits der Lohnarbeit und der familiären Pflichten. Mit Literatur, Film, Musik? Mit sinnloser Prokrastiniererei? Man kann nicht immer nur sinnvolle Dinge tun, man muss auch Zeit vergeuden, ich bin sehr überzeugt davon, dass das für eine gesunde Psyche wichtig ist.

Die Jahrgänge der Menschen, für die ich mithelfe, Pflege und Betreuung sicherzustellen, rücken jedenfalls immer näher an meinen und an jene meiner Lieblingsmenschen heran. Auf Hilfe angewiesen zu sein, ist nichts, was in einer unendlich entfernten Zukunft liegt oder eine*n wahrscheinlich nicht trifft. Im Gegenteil, es kann jeden und jede zu jeder Zeit treffen. Es lebt sich natürlich leichter und angenehmer, wenn man über dieses Faktum nicht nachdenkt, doch diese Art der Distanzierung ist mir leider immer weniger vergönnt.

(Wenn man es weiterdenkt: Nicht nur, dass es sich angenehmer lebt. Den Tod zu verdrängen ist eine Voraussetzung dafür, überhaupt das Leben genießen zu können. Wer könnte sich freuen und lachen, wenn er oder sie ständig das platzende Aneurysma, den dräuenden Hirnschlag erwartet? Keine Chance klarerweise. „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter“, was für ein Unsinn, alle würden ständig laut schreien vor Angst. Oder Ekstase.)

Gestern Abend sei ja nun angeblich das Tor zwischen der Welt der Lebenden und der Toten ein wenig offen gestanden und ich könnte nun nicht sagen, dass das eine besonders angenehme oder erhellende Erfahrung war. Das Kind war traurig, weil die Halloween-Party abgesagt war. Die jüngste klimakrisenbedingte Katastrophe, diesmal Regen in Spanien, und die allmonatlichen Meldungen von Temperaturrekorden füllten meine Timeline, natürlich, wir müssten raus aus den fossilen Brennstoffen, aber alles, jedes Fitzelchen Alltagsleben, Existenzsicherung, Hoch- und Populärkultur, Unterhaltungsindustrie baut auf der Verbrennung und Verwertung fossiler Energieformen auf. In den Abendnachrichten sehe ich einen grinsenden Volkskanzler-in-spe Kickl, wie er vor Orbán den Bückling macht und sich diebisch freut, dass er’s jetzt allen zeigt und denke sofort an das Diktum von Franz Schuh, er sei „ein verbissener Mensch, der viel zu klein für alles ist, wonach er greift“. Und nächste Woche wird vielleicht dieser orange Lackaffe wieder gewählt, es ist kaum auszuhalten, was soll dann eigentlich werden? Ich lenke mich ab, eben mit sinnloser Prokrastiniererei und kann doch nichts davon vergessen, man kann Werbeblöcke immer wunderbar auf die Endzeit des Kapitalismus hin lesen und weiter verzweifeln, das hab‘ ich oft für Sie getestet.

Nun denn, ich werde heute meiner Toten gedenken, als würde ich das nicht ohnehin jeden Tag machen, und eventuell versuchen, mit körperlicher Betätigung dem unproduktiven Endzeit-Nachhirnen etwas entgegenzusetzen, mal sehen, wie erfolgreich ich damit bin.

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