Auszug
Für jede Lebenslage gibt es Ratgeber. Oder zumindest die Vorstellung, dass es einen Ratgeber brauchen könnte, damit es besser funktioniert. Kurzes Google-Befragen ergibt ein paar Treffer („Empty-Nest-Syndrome“!), aber ich bin sicher, in einer Buchhandlung würde ich viel zum Start eines Kinderlebens finden aber nur wenig zum Abschluss. Aber ehrlicherweise habe ich auch die Lebensstartratgeber nie wirklich befolgt.
Also. Es ist ja auch nicht alles schlecht daran. Die interessanteste Erfahrung: Ich vermisse jemanden, darf aber um Gotteshimmelswillen und keinesfalls irgendjemandem und schon gar nicht dem Betroffenen selbst sagen, dass ich ihn vermisse. Ganz tief in mir drin muss ich das vergraben, bloß nicht drüber jammern, unterstützend sein bei allen neuen Herausforderungen, die er durch und mit seinem Wegsein hat.
Aber wie gesagt, es ist nicht alles schlecht. Ich habe ein neues Zimmer, das sich sehr zur Zurückgezogenheit eignet, etwas das ich lang (zu lang) vermisst habe. So viel elterliche Entbehrung, so viel Bereitschaft, auf meinen Komfort, auf meine Bedürfnisse zu verzichten, damit die Kinder ihre Rückzugsräume haben. Hätte ich mehr darauf beharren sollen? Was hätte es geändert, wenn ich auf meine Bequemlichkeit bestanden hätte? Wären mehr geschwisterliche Konflikte der Preis gewesen? Wäre es früher zum Auszug gekommen, weil die Situation früher untragbar gewesen wäre? Ich werde es nicht herausfinden. Es war so, wie es war, unter diesen Bedingungen sind sie nun groß geworden. (Diese allgemeine Alterserscheinung, so vieles ist nun gelaufen, wie es eben gelaufen ist, die Vorteile sind evident, die Nachteile ebenso und ein Zurückdrehen des Rades ist unmöglich, die Frage „War es richtig so?“ auf bemerkenswerte Weise sinnlos.)
Die Wohnung ist riesig jetzt. Die Wege scheinen sich noch zu verlängern, das Ausräumen und -misten hat Platz geschaffen, mal wohltuender Minimalismus, mal irritierende Halligkeit in den zeitweise fast völlig leeren Räumen. Das jüngere Kind ist ja noch da, aber füllen wir diesen vielen Raum noch aus? Das Bild hinter dem Gefühl ist das eines grobmaschigen Netzes, das mehr auseinandergezogen wird als sonst, die Löcher vergrößern sich, was vorher leicht und sicher gehalten wurde, kippt jetzt ein bisschen, könnte auch durchrutschen. Alles festzuhalten, alles zusammenzuhalten durch die vielen kleinen Präsenzen und Handgriffe der Tage und Nächte, das war jahrelang der Auftrag und jetzt übe ich mich im Loslassen, im Wegschauen, im Andere-Machen-Lassen, wo ich vorher zuständig war, heißt es jetzt, den Zustand zuzugestehen.
Ein Lehrstück in Ambivalenz ist es auch für das jüngere Kind. Monatelang ist sie allen in den Ohren gelegen damit, dass der Bruder endlich ausziehen soll. Jetzt, wo es soweit ist, stellt sie fest, dass die Veränderungen auch für sie weitreichender sind. Plötzlich ist sie Einzelkind, voll in meinem Fokus, Zeit und Muße genug für mich, mit ihr präsent zu sein, Mithilfe einzufordern, für vieles, was der Bruder ohne ihr unmittelbares Bemerken abgefedert hat, muss jetzt sie Verantwortung übernehmen. Zusammen mit der auslaufenden Hochpubertät eine recht explosive Mischung, die Palette reicht von auffällig zahlreichen Kuschelstunden bis hin zu schlagenden Türen.
Hätte ich alles das eher vorwegnehmen können? Ich gebe zu, kein einziger ernsthaft planender und vorausschauender Gedanke meiner bisherigen Mütterkarriere hat diesem Abschnitt gegolten (nur das kokette „Wann maturieren sie endlich?“ zu Kindergartenzeiten). Mich wieder auf mich und meine Interessen und Bedürfnisse besinnen, das ja, aber die Frage nach dem richtigen Maß zwischen fortgesetzter, unterstützender Präsenz für die Kinder und der Hinwendung zu mir selbst stellt sich weiterhin, wie am Beginn, ein niemals endender Prozess bis hoffentlich ich zuerst das Zeitliche segne. (Ach ja, und das Alter klopft an, die Zipperlein nach dem Möbelschleppen, das Wissen, dass es für uns Eltern abgeschlossen ist und jetzt nur noch ein paar gute Jahre kommen, bis ein – hoffentlich sanfter, langsamer – Abstieg beginnt.)