Begegnungen

Die zwei herzigen Männer hier im Fastenhaus, die kaum was reden. E. und W., es sind Brüder, sie wirken wie Jugendliche in den Körpern von 60-Jährigen. Sie leben auf dem Land, im Speckgürtel der Großstadt. E. hat einen sehr freundlichen, älteren, übergewichtigen Labrador und das Einzige, was er gerne erzählt, sind die verschiedenen Umbauten, die er rund um sein Haus vorgenommen hat, das Schildkrötengehege, die Outdoorküche. W. erzählt gar nichts, aber er macht tatsächlich bei den Bewegungsangeboten regelmäßig mit, was wir schon alle bemerkenswert finden, sogar beim Zumba-ähnlichen, doch koordinativ recht herausfordernden rhythmischen Gymnastik-Gehopse, wofür wir ihm am Ende Extra-Applaus geben, weil er der einzige Mann war.

Dann heute beim Frühstücksshake erzählt die umtriebige Pensionistin E., wie es war, als sie Corona hatte und plötzlich geht es doch los. Als hätte man einen Schalter umgelegt. W. beginnt plötzlich zu reden, die Maßnahmen seien überzogen gewesen, man hätte das Volk nur aufgehusst, alles war übertrieben und wir seien belogen worden. Er sei eigentlich Impfgegner gewesen und habe sich unter Druck seines Chefs impfen lassen müssen, weil dieser sonst Strafe hätte zahlen müssen und ihm mit Entlassung gedroht worden sei. Von da an gibt es kein Halten mehr, befeuert auch von der sehr meinungsstarken und rhetorisch begabten U. Sie sagt etwas, dass mir zu denken gibt, das Corona-Management sei auf dem Land völlig anders wahrgenommen worden als in der Großstadt. Man kenne sich hier, man habe gewusst, wann wer infiziert war. Die soziale Kontrolle und die Eigenverantwortung hätten besser funktioniert, die großen anonymen Menschenansammlungen wie in der Stadt in öffentlichen Verkehrsmitteln gebe es so nicht. Dass ich dagegen an Masken in vollen U-Bahnen und am Arbeitsplatz mit Vulnerablen geglaubt und von ihrer Wirksamkeit überzeugt war, verstehen auch alle am Tisch.

E. kommt etwas später dazu und er bemüht sich sichtlich um Contenance. Aber wenn wir ein Sozialsystem hätten, in das 3 Millionen Menschen einzahlen, dann könne das doch nicht für die ganze Welt gelten. Wenn er zwei Anoraks habe, dann könne er einen einem anderen armen Menschen schenken, aber er habe nicht genug Anoraks für hundert arme Menschen. Und überhaupt bekomme er keinen Facharzttermin binnen vernünftiger Frist mehr, wenn er nicht in eine Privatpraxis gehe, weil die Gesundheitsinstitutionen so überlaufen seien. Das Argument von Pensionistin E., dass das auch mit Vergütungsregelungen durch die Krankenkassen zu tun haben könnte, verfängt eher nicht. Dabei, wie gesagt, er hält sich zurück. Nicht einmal fällt das Wort „Ausländer“ oder „Asylwerber“ in despektierlicher Weise. Aber es ist klar, wer an allem schuld ist. Als ich dann kurz mal den Blick beispielhaft auf die Signa-Pleite lenke und anrege, dass der wirkliche Geld- und Vermögensverlust der einfachen Leute vielleicht woanders liegen könnte, wird auch das freundlich weggelächelt.

Und überhaupt, die Medien, sie würden nur lügen, Geschichten nur bringen, um sie verfälscht darzustellen, um ihre Verkaufszahlen und Klicks zu generieren. Man schaue nicht mehr die Nachrichten und lese keine Zeitungen mehr, man könne eh nichts mehr glauben. Ich frage mich, ob sie diese Standards auch an die Information anlegen, die sie konsumieren, aber ich sage es nicht laut.

Wir sind am Tisch sechs Menschen, wir sind ein schöner Querschnitt der Bevölkerung, alle schon älter, mehr Frauen als Männer, viele in Pension, zwei Selbständige, eine Angestellte. Als U. sagt, sie fürchte sich vor der Wahl im Herbst, sie wisse wirklich nicht, wen sie wählen soll, bleiben E. und W. stumm, sie haben ihre Wahl offensichtlich getroffen. Ihre Ängste, ihre Sorgen, ich verstehe sie zum Teil. Das sind auch beide wirklich herzige Männer, ich sagte es schon, wohl sehr einsilbig, sie sind in ihren Gedanken und Handlungen nicht sehr ausschweifend und innovativ, aber bestimmt sind sie immer fleißig und tüchtig gewesen und haben brav gearbeitet und „47 Johr einzoit“. Sie sind grundsätzlich freundliche und hilfsbereite Menschen und auch offen für andere Lebensentwürfe, sonst würden sie nicht fasten und Gymnastik machen. Aber die Verheißung „Wenn die Ausländer weg sind und wir alle ganz frei, dann wird alles besser“, die hat bei ihnen verfangen und voraussichtlich müssen wir da wieder einmal durch, bis wir sehen, ob das wirklich stimmt.

Read more