Breathe
Atmen. Erst jetzt wird mir klar, wie wichtig es ist. Taktgeber, Rhythmusgeber des Lebens. In and out. In and out. Ich wusste es natürlich schon, allerspätestens seit den paarmal Yoga vor Jahren. Das Prickeln im Gesicht, wenn ich es richtig gemacht hab, die tauben Lippen.
Aber seit ich wieder regelmäßig Sport mache, fällt es mir mehr auf, das sensible Gleichgewicht zwischen dem Ein und Aus und dem Herzschlag, dem Muskelspiel. Beim Radfahren, eine ordentliche Gangschaltung ist Gold wert im hügeligen Wien, weil der Takt gleichbleiben muss, der Atem und die Frequenz des Tretens müssen abgeglichen sein.
Und beim Kraulen natürlich, weil der Atem sehr genau einzutakten ist in die Bewegungen, um überhaupt den Flow, das Gut-Im-Wasser-Liegen aufrechterhalten zu können. Rechts ist meine bevorzugte Seite, da hab‘ ich schon Routine, da muss ich nicht mehr nachdenken. Nebeneffekt ist aber, dass die linke Schulter sehr viel mehr arbeiten muss, komplexere Abläufe, um den Kopf lang genug aus dem Wasser drücken zu können für den tiefen Atemzug, den ich brauche. Um einseitige Belastung zu vermeiden ist daher mein Ziel, auch die Atmung links so gut hinzubekommen, dass ich immer abwechselnd auf beide Seiten nach drei Armzügen atmen kann, damit beide Schultern ungefähr das Gleiche machen. Komischerweise kann ich nicht auf beide Seiten gleich den Kopf aus dem Wasser drehen und atmen, ich sacke nach links immer ein wenig ab, der Flow knickt, ich bin wohl eine sehr deutliche Rechtshänderin, Rechtsdreherin, Rechtsschauerin, dabei schlafe ich bevorzugt auf links. Naja, wie auch immer, das Training läuft dennoch ganz gut, ich krieg auch das dreimal Atmen schon hin, aber wenn ich vom Overthinking genug habe, mach ich halt immer noch ein paar Längen den Zwei-Armzüge-Rechtsatmer.
Das ist das Interessante am Sport, wirklich schön wird es erst, wenn man nicht mehr nachdenken muss, was man tut. Trifft aber wohl auf viele Aspekte des Lebens zu. Ich bin ziemlich sicher, dass es dazu einen feinen biopsychologischen Fachbegriff gibt, der diesen wunderschönen Zustand des Lernens beschreibt, wenn einer etwas „in Fleisch und Blut übergeht“. Zuerst eignet man sich mühsam eine neue Fertigkeit an, muss sich konzentrieren und auf alle Hinweise und Instruktionen achten und nach einer Weile kommt dieser magische Moment, wo die Aufmerksamkeit etwas nachlassen darf, man trotzdem unwillkürlich im neu erlernten Muster bleibt und sich dem Genuss des Erlebens dieser neuen Fähigkeit erst hingeben kann. Beim Sprachen Lernen ist es auch ein bisschen so, z.B. wenn man den ersten Witz versteht oder macht.
Aber atmen muss man nicht lernen, nach den ersten paar wohl schmerzhaften postpartalen Malen. Darüber muss man auch eigentlich nicht nachdenken, wenn man sich nicht fordert. Es passiert von selbst, hail thee o vegetatives Nervensystem! Es ist das Allerletzte, das aufhört, gemeinsam mit dem Herzschlag. Unvorstellbar ist das für einen lebendigen Menschen, dass es aufhören kann. Große Angst löst diese Vorstellung aus, Atemnot die schlimmste Angst neben starken Schmerzen bei Sterbenden.
Je näher mir der Atem kommt, desto näher kommt mir auch die Angst. Soll ich mich vielleicht doch mal durchchecken lassen, ob mein Herz das alles aushält, EKG und solche Mätzchen, einfach mal nachschauen, ob eh alles soweit, bin ja doch nimmer die Jüngste. You cherish more what you are about to lose, one could say. Hab‘ ja täglich mit Menschen zu tun, denen das Leben und das Atmen aus den Fingern gleitet, schneller oder langsamer und oft sehe ich ihren wütenden, ratlosen Widerstand. Natürlich, kein Grund sich über sie zu erheben, was soll man sonst machen als weiterleben oder jemanden nicht verlieren wollen?
Am Leben, am Atmen hängen und sich doch dem Unwägbaren vertrauensvoll hingeben, dem nächsten Atemzug und dem nächsten und dem letzten, im Vertrauen, das ist die immer aktuelle Übung bis zu diesem unbestimmten Zeitpunkt.