Der Tod ist grosz

Wenn man wie ich mit und für Menschen in ihrer letzten Lebensphase arbeitet, gibt es zwei mögliche Effekte und damit Herangehensweisen an das Leben: Entweder man genießt es umso mehr und erfreut sich jeden Tag an den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die man noch hat. Oder man betrachtet es als zunehmend öden Ablauf der immergleichen zyklischen Prozesse, Sommer, Weihnachten, Sommer, Weihnachten, spiralig und mit immer denselben Begleitgeräuschen, nur man selber beobachtet sich beim Abgeklärter-Werden und Von-Nichts-Mehr-Überrascht-Werden-Können weil Alles-Schon-Erlebt-Haben. Meistens empfindet man beides gleichzeitig. Das ist alles genauso banal wie es klingt und trotzdem so unendlich bedeutsam für jeden einzelnen Menschen.

Ungefähr 2000 Personen habe ich bereits mit Namen gekannt, einige davon auch persönlich, die durch und über mich zu uns in Pflege gekommen sind, die letzten paar Tage, Wochen, aber auch Monate oder Jahre noch gelebt haben und dann gestorben sind. Man sollte meinen, dass ein so alltäglicher Vorgang, der uns alle ausnahmslos betrifft, etwas mehr im Gespräch ist, normaler, besprechbarer, aber nein, wir schaffen das nicht, solange noch ein Funken Leben in uns ist, gibt es nur das, denn was das Nicht-Leben ist, ist auch das Nicht-Denken und das Nicht-Fühlen, wie sollen wir uns dem angemessen annähern mit unserem Fleisch und unseren anderen weichen, feuchten Massen, mit diesem rätselhaften Atem, der uns treibt und der seine eigene Auflösung, sein Aufgehen in etwas, nicht fassen kann.

Niki Glattauer versucht es, weil er im Unterschied zu den meisten Menschen genau weiß, wann er sterben wird. Schon bald. Übermorgen. Jetzt, wo ich das schreibe, lebt er noch. Wenn ich übermorgen arbeite und wieder jemand kommt zum Sterben zu uns, lebt aber noch eine Weile, dann stirbt er. Ich hege den Verdacht, dass das ein großes Skandalon ist in der Diskussion um den assistierten Suizid: Er weiß nicht nur, wann es sein wird, das weiß ein zum Tode Verurteilter schließlich auch (fast sicher), er hat es selbst so bestimmt. Das Selbst-Bestimmen des Todes widerspricht 2000 Jahren christlicher Lehre, dem Sich-Anheim-Geben im Leid, als Qualität, als Tugend. Zu wissen, dass es nun auch offiziell anders geht, stellt uns vor eine sehr radikale Wahl, zwingt uns beinahe dazu, wo wir uns davor ein Leben lang wie Kinder benehmen konnten, die nicht wissen, warum sie hierhergebracht wurden, aber nun einfach mal dableiben und eilig in den Berg mit Süßigkeiten greifen, bevor sie vielleicht wieder gehen müssen. Kürzlich sah ich eine Serie, die im 16. Jahrhundert spielte und in der viele Menschen starben, mehrere durch Krankheit (z.B. der Englische Schweiß, eine Erkrankung, die binnen Stunden (!) zum Tod führen konnte), einige infolge der Willkür und durch die Hand anderer Menschen. Es fällt mir schwer, nachzuempfinden, wie es sich anfühlen muss, wenn der Tod jeden Tag eine Möglichkeit ist, mit der man reell rechnen muss. Was bleibt einer oder einem da anderes übrig, als sich anheim zu geben? Da ist nichts, was man steuern oder abwenden kann.

Ich kann nur empfehlen, dieses Interview zu lesen. Ich fand Herrn Glattauer in der Vergangenheit oftmals ein wenig... allgegenwärtig, er äußerte sich als Lehrer und Freund vieler Journalisten oft zu aktuellen bildungs- und migrationspolitischen Themen in Österreich. Aber er ist ein kluger und mutiger Mensch und er macht jetzt genau das Richtige, er nutzt seine Autorität um den Tod in die Diskussion zurückzubringen. Seinen Tod, seinen speziellen, aber damit auch jeden Tod. Ich bringe es nur gerade nicht über mich, es selbst nochmal zu lesen, denn ich musste weinen und kann noch nicht aufgeben, ich habe noch eine Weile das Leben zu begleiten.

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