Der Wechsel II

Ich hab‘ es verschrien. Natürlich. Nicht lange nach dem letzten diesbezüglichen Post begann es doch zu wallen. Jeden Morgen unmittelbar nach dem Aufwachen wird mein ganzer Organismus überflutet von Hitze. Ich schlage mit einer großen Bewegung die Decke zurück und würde mir am liebsten die Haut auch noch ausziehen. Und dann während des Tages immer wieder. Die Wogen des Blutes branden durch den Körper, der Schweiß bricht aus, ein seltsames Beklemmungsgefühl in der Hals- und Brustgegend, ich hätte große Lust zu schreien und zu weinen. Mehrmals am Tag käme das aber wohl nicht so gut an, man könnte leicht unentspannt wirken, auffällig und eventuell nicht hundertprozentig ernst zu nehmen. Nun ja.

Aber ich bemerke auch etwas anderes Interessanteres: Eine nicht ganz leicht einzuordnende neue Aufmerksamkeit. Acute awareness. Die Konturen sind scharf, die Farben kräftig, ich registriere alle Bewegungen und Blicke meiner Mitmenschen, ich beobachte mich selbst beim Handeln und Manipulieren von Gegenständen, ich spüre jeder Bewegung nach, ich fühle sogar das Essen und Trinken in meinen Körper kommen, als hätte ich feine Nerven selbst im Verdauungstrakt. Und eine Folge dieser Aufmerksamkeit ist auch eine neue Gewohnheit, Dinge sofort anzusprechen, ohne unnötige Verzögerung, sogar ohne groß darüber nachzudenken, es kommt einfach so aus mir heraus. In heiklen zwischenmenschlichen Dingen halte ich mich natürlich dennoch ein wenig zurück, ich will ja niemanden überfahren oder mir nichts zu eigen machen, das mir nicht zusteht. Aber der innere Zensor ist schwächer geworden, der immer frug „Darf ich das?“ und „Wie kommt das an?“ und mich deshalb oft den richtigen Moment für eine wirkungsvolle Einlassung versäumen ließ.

Keine Ahnung, ob das mit dem Wechsel zusammenhängt, ob es überhaupt etwas physiologisch Begründbares ist oder einfach eine psychische Disposition. Oder auch Einbildung. Aber es fühlt sich interessant an. Ich mag die Unmittelbarkeit, die damit einhergeht. Ich mag die Vorstellung, dass ich jetzt eine dieser älteren Frauen werden könnte, die Dinge sieht und anspricht. Als junge Frau war ich ja bisweilen in gewissen Chimären verstrickt, ich hab‘ mir sehr erfolgreich etwas vorgemacht, vielleicht Bedürfnisse, die nur Wünsche waren oder Gefühle, die keine reale Grundlage hatten, sondern auf solche undefinierbaren Bedürfnisse und/oder Wünsche zurückzuführen waren. Gleichzeitig dachte ich, dass das niemand weiß oder bemerkt, dass ich total gut darin wäre, allen anderen auch etwas vorzumachen. Mitnichten selbstverständlich. Ältere Frauen sahen und wussten alles und manchmal, mit bemerkenswertem Zartgefühl, nicht überfordernd oft, sondern zu passenden Gelegenheiten mit Denkwürdigkeitspotential, wurde mir dann die Wahrheit™ um die Ohren gehauen.

Unleugbar indes, dass diese neue Fähigkeit etwas mit dem Ende der Fruchtbarkeit zu tun hat. Wieviel Raum hat das im Leben eingenommen, das Begehren, das Ausschau halten nach einem Partner, die Abwehr von ungewünschten Partnern, dann die Reproduktion, die Aushandlungsprozesse des daraus resultierenden Arbeitsanfalls! Durch all das durchgegangen, alles erlebt mit Freud und Leid, jetzt entsteht Distanz dazu und das ganze Bild wird dann besser sichtbar.

Die nächste Generation ihrerseits tut alles, damit ich nicht in die Gefahr komme, mich der Illusion hinzugeben, dass meine Einlassungen auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Sie verbirgt gut, dass sie sich merken könnte, was ich sage, so schließt sich der Kreis.

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