Die Sache mit dem Kind
Als mein erstes Kind ein Säugling war, hatte ich einen häufig wiederkehrenden Alptraum. Ich war in den Straßen und Geschäften der Stadt unterwegs und plötzlich fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja jetzt ein Kind und es aus irgendeinem Grund nicht dabeihatte, ich musste es irgendwo verloren haben, verlegt, vergessen. Das war vor allem deshalb so schlimm, weil dieses Kind ja nicht ohne mich überleben konnte, nicht nur, dass ich es beschützen musste, sondern ich ernährte es, hielt es buchstäblich nur durch meinen Körper am Leben, wenn ich nicht in der Nähe war und es nicht stillen konnte, würde es Hunger leiden und konnte sogar sterben. Also wachte ich erschrocken auf, mit schlechtem Gewissen, aber natürlich war es auch ein Wunschtraum, ich wollte den Kleinen auch mal vergessen können. Aber das darf eine Mutter nicht.
Ja, ich weiß, es gibt Milchnahrung. Ich wusste das natürlich auch damals. Aber ich liebte es auch, das Kind zu stillen, es ist eine wunderbare Erfahrung im Leben eines Menschen. Eine so innige Verbindung, sehr körperlich und reproduktiv, aber ganz ohne das Drängende und die Aufregung, nur gleichmäßige, warme, innige Zufriedenheit. Wunderbar. Wenn man mal über die Anfangsschwierigkeiten wie pralle Riesenbrüste vom Milcheinschuss, blutige Brustwarzen, scharfen Schmerz jedes Mal beim Anlegen oder aber ausbleibende Milch und ein ständig hungriges Kind und daneben und darüber die anderen Schmerzen und den allumfassenden Schlafmangel hinweggekommen ist.
Ich erinnere mich auch noch sehr gut an einen Abend, als mein Sohn vielleicht 3 Monate alt war und angefangen hatte, abends für eine gute halbe Stunde lauthals zu brüllen (Schreibaby-Eltern, verzeiht mir, ich weiß, das ist nichts). Bis dahin hatte er viel geschlafen und getrunken, ich hatte ihn herumgetragen und bewundert, der Rhythmus hatte sich erstmals etwas eingependelt. Jetzt fing er an aufmerksamer zu werden und verarbeitete mit den abendlichen Schreistunden wohl die vielen neuen Eindrücke, aber das hatte ich noch nicht in einem der Ratgeber gelesen und Elternforen gab es noch nicht. An jedem Abend also war ich wohl etwas müde und gestresst, hatte das Kind bereits gestillt, Windeln gewechselt, gewiegt und betüdelt und es wollte sich nicht beruhigen und schrie einfach immer noch. Da stieg die Wut in mir hoch, etwas setzte aus, vor mein Blickfeld schob sich ein roter Schleier und ich hob ihn unter den Achseln vor mir hoch. Bevor ich noch die ersten Armbewegungen tun konnte, erschrak ich zutiefst über mich selbst, legte das schreiende Kind kurz in sein Gitterbett und verließ für ein paar Minuten das Zimmer. So schnell geht das also, dachte ich. So nah ist das. Du bist allein und müde und sauer und es passiert dir. Es kann auch dir passieren. Das entschuldigt nichts, du musst aufhören, du weißt, dass das Kind nichts dafürkann. Man kann es nicht verstehen, wenn jemand so etwas tut, wirklich tut, öfter als einmal, aber ich konnte, ich musste es in diesem Moment kurz nachvollziehen.
Ich denke nicht unbedingt gern an diese erste Babyzeit zurück. Ich vermeide es eigentlich und werde nur durch Medienberichte über ähnliche, aber weitaus schlimmere Ereignisse in anderen Familien daran erinnert und dann fühle ich diese Dinge wieder. Es mag viele geben, die diese Zeit als magisch und besonders erleben, aber ich glaube, alle sind sich einig, dass die ersten Monate mit einem Baby immer auch prekär und physisch und psychisch anstrengend verlaufen.
Ja, Mutterschaft ist ein Trauma, meine Damen und Herren und alle dazwischen! Wahrscheinlich Elternschaft allgemein, aber für Mütter nochmal besonders wegen des Körperteilungsbonus. Man ist nur verleitet, es für eine einfache Sache zu halten, weil niemand von uns hier wäre, wenn es nicht doch meistens klappen würde. Diese grandiose Liebe und das Entzücken helfen natürlich ungemein, Kindchenschema und so, Sie wissen. Aber wenn ich da allein bin als Mutter (oder auch als Vater), entweder einfach allein oder allein zwischen den Menschen, die mich umgeben, weil sie mich nicht verstehen oder mir nicht die Unterstützung geben können oder wollen, die ich brauchen würde, dann kann die Last der Verantwortung erdrückend sein und die Aussichten auf Besserung der Lage sehr trübe.
„Die Betroffene solle merken können, dass es ihr nicht gut geht“, sagte da jüngst eine Psychiaterin im Fernsehen dazu, sie soll es merken können oder vielmehr DÜRFEN, sie soll äußern und zugeben dürfen, dass sie nicht glücklich ist, sondern ausschließlich verzweifelt und dass sie sich nicht daran gewöhnen kann, dauernd nur für dieses Kind zu sorgen und sich selbst in allem hintanzustellen. UND es müssen dann auch noch Menschen zuhören, die es nicht als bedrohlich empfinden, dass die eigentlich mit der Kindesbetreuung beauftragte Person schwächelt, denen das Wohlergehen dieser Person am Herzen liegt, die nicht der Einfachheit halber nur mit Abwehr und dem Verweis auf die problemlos stattgehabte Kinderaufzucht der zurückliegenden Jahrtausende reagieren. Ganz schön viel zu überwinden für so eine belastete Mutter. Und da haben wir noch nicht mal angefangen, über die niederschwellige Verfügbarkeit von geschultem Personal für die Krisenbewältigung zu sprechen.