Ein Bild und ein Ziel

Es muss in den späten 80ern gewesen sein, ich war in der gymnasialen Unterstufe, 13 Jahre alt. Das Kinderfernsehen im österreichischen Rundfunk verstand sich noch als progressiv und innovativ und strahlte regelmäßig eine Diskussionssendung von und für Kinder und Jugendliche aus, nicht gescriptet seinerzeit oder, sagen wir, kaum. Wahrscheinlich war man noch wie berauscht davon, sich den legendären Club 2 ausgedacht zu haben und meinte, das müsste doch eigentlich auch mit ganz jungen Menschen funktionieren.

Ich weiß nicht mehr, wie wir dazu kamen, dort teilzunehmen, wahrscheinlich über Vermittlung einer unserer Lehrerinnen, jedenfalls wurden ich und einige meiner Klassenkolleginnen zur Vorbesprechung für die Sendung in die Privatwohnung eines damals recht hochrangigen ÖVP-Politikers eingeladen. Seine Gattin führte das Gespräch mit uns, das angesetzte Thema war Strafen. Warum die Politikergattin diese Aufgabe übernahm, fragte ich mich damals nicht, heute könnte man sagen, es ist eine schöne Illustration, wie in Österreich und speziell in der einzigen größeren Stadt Wien Politik und Medien in einem hübsch überschaubaren Bekanntenkreis eng miteinander verzahnt waren (und vermutlich nach wie vor sind).

Ich erinnere mich an eine riesige Wohnung zentrumsnah, regelrechte Zimmerfluchten, wir nahmen Platz in einem geräumigen Salon, Ölschinken an den Wänden zu modernen Leder-Stahlrohr-Couches wie es die 80er liebten. Ich war beeindruckt, aber ich fürchtete mich nicht. Unsere Wohnung passte zur Gänze in dieses Zimmer, aber ich ging ins Gymnasium, war Klassenbeste mit lauter Einsern und ich war nicht schüchtern, konnte mich sprachlich gut ausdrücken. Die Politikergattin bot Zigaretten an, das weiß ich noch sehr gut, sie sagte, wer den Mut habe, ins Fernsehen zu gehen, dürfe bei ihr auch schon rauchen. Ich war damals von den behüteten Kids in meiner Klasse die Einzige, die bereits rauchte und meine Kolleginnen wussten das, sie schauten mich erwartungsvoll an, ob ich das Angebot annehmen würde, aber ich reagierte nicht, es erschien mir nicht passend, mich auf diese Weise hervorzutun.

Weder an das weitere Vorgespräch noch an die Aufzeichnung der Diskussionssendung selbst im ORF-Zentrum am Küniglberg (Oder wurde es sogar live gesendet wie der Club 2? Zuzutrauen wäre es ihnen…) habe ich konkrete Erinnerungen. Wie gesagt, es ging um das Thema Strafen und ich hatte dazu eigentlich nichts zu sagen, denn als Kind einer alleinerziehenden Mutter, das gründlich durchparentifiziert war und in allem was es tat, an die Auswirkungen für die Mutter dachte, beging ich keine Regelüberschreitungen, für die ich bestraft werden hätte müssen (und von wem?). Rauchen jedenfalls fiel definitiv nicht darunter.

Woran ich mich noch erinnere, war, dass die Politikergattin uns den Besuch von Museen empfahl. Sie hatte einen Sohn, deutlich jünger als wir, vielleicht fünf Jahre alt oder knapp in der Schule, er hüpfte irgendwann während des Vorgesprächs durch’s Zimmer. Sie sagte, sie gehe mit ihm ins Kunsthistorische Museum (ich war fasziniert, ich lebte zu diesem Zeitpunkt seit 5 Jahren in der Bundeshauptstadt und war selbstverständlich nicht ein einziges Mal in irgendeinem Museum gewesen) und dann sehe sie sich mit dem Kind EIN Bild an, ein einziges. Das sei genug, dann gingen sie wieder.

Es ist möglich, dass ich bis zum heutigen Tage immer noch, wenn ich in ein Museum gehe, an die Politikergattin denke. Ich suche dann EIN Bild, ein einziges. Oder ich erlaube mir, an 99 Bildern vorbeizugehen und das EINE Bild zu finden, das mir etwas zu sagen hat.

Inzwischen war ich mehrere Male im Kunsthistorischen Museum, mit meinen Kindern, ohne, einige Gelegenheiten. Ehrlicherweise sind die Eindrücke anfangs immer ziemlich überwältigend, man muss sich erst an teilweise meterhohe farbenfrohe und ausdrucksstarke Gemälde mit allen möglichen christlichen und mythologischen Szenen und die knarzenden Böden gewöhnen. Das Ausschau-Halten nach einem besonderen Bild ist fast eine Überforderung, denn wie wählen, wie fixieren. Die Bilder, die hier hängen, umspannen so viele Jahrhunderte und Thematiken, waren das Ergebnis einer Sammlertätigkeit über lange Zeit, waren nicht nur „Kunst“, sondern Anleitungen zum Geschichten-Erzählen, kulturelles und religiöses Anschauungs- und Beschwörungsmaterial und natürlich auch Instrumente der Macht und des Prestigegewinns.

Erschöpft sitzen bleibe ich diesmal schließlich vor diesem Bild, weil ich es einigermaßen auffällig und auch anregend finde, wie intim und zielsicher Mars Venus hier umfängt.

Tizian Werkstatt; Mars, Venus und Amor, um 1550

Vermutlich hing das Bild seinerzeit nicht einfach neben irgendwelchen Auferstehungsszenen. Außerdem sagt der Erklärungstext, dass aus der Verbindung der beiden Götter die Tochter Harmonia entstünde. Wenn sich Krieg und Liebe vereinen, entsteht Harmonie, ein Beispiel für das „lebenserhaltende Miteinander gegensätzlicher Kräfte“? Ich möchte es so gerne annehmen, möchte glauben, dass der Kämpfer den Kampf vergisst für die Liebe und seine Kraft und Leidenschaft auflöst im Begehren und im Entstehen-Lassen neuen Lebens. Eine optimistische Sicht der Dinge, ich denke dabei an das nicht wirklich optimistische „Handbuch für die Liebe“ von Marlene Streeruwitz, das ich gerade lese.

Natürlich kann ich mich dann doch nicht auf ein Bild beschränken, ich bin ja auch inzwischen erwachsen, ich darf das. Ich bin auch berührt von diesem Bild, vermutlich, weil es berühmt ist und damit grundiert in meinen Sehgewohnheiten, aber auch weil es so auffällig geometrisch komponiert ist und damit meinen Blick lenkt und kontrolliert.

Raffael, Die Madonna im Grünen, 1505–1506

Dabei ist es ein zärtliches und unschuldiges Bild, eine beiläufige Szene, aufgeladen mit allerlei Bedeutung, die man hier nachlesen kann, aber wenn man direkt davorsteht, ist man berührt vom sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht und ihren sorgsamen Händen, von der lebendigen, spielerischen Haltung der Kinder zueinander, von den feinen Heiligenscheinen. Nur ihr Fuß! Ihr rechter Fuß! Der wird gebraucht als Pyramidenecke, sieht aber bei näherer Betrachtung ein wenig grotesk aus, wie hängend an einem unnatürlich im Photoshop verlängerten Bein. (Braucht man ihn wirklich? Wer bin ich, Raffael zu kritisieren, aber er steht schon ein wenig anatomisch unsinnig weit hervor.)

(Ich muss übrigens revidieren, irgendwann um mein Erlebnis mit der Politikergattin muss ich doch schon einmal im Kunsthistorischen Museum gewesen sein, war es davor oder danach, keine Ahnung mehr, ich erinnere mich jedenfalls, dass die ganze Schulklasse dort war um ein einziges Bild zu betrachten, meine von mir hochgeschätzte Deutschlehrerin brachte uns anhand des Turmbaus zu Babel von Bruegel das überaus nützliche Wort „Hybris“ bei.)

Zusätzlich zu all dem ist es mir ein großes Anliegen hier und heute mitzuteilen, dass ich ein wichtiges Ziel in meinem Leben endlich erreicht habe: Ich kann jetzt verlässlich genau so schwimmen, wie ich es von frühester Jugend an immer wollte. Kraulen mit je einer Atmung nach drei Armzügen, also abwechselnd zu beiden Seiten, ohne abzusaufen, ohne zu sehr außer Atem zu kommen und ohne über irgendetwas davon besonders nachdenken zu müssen (hier der Post, als ich das noch nicht konnte). Das ist ein sehr befriedigendes Gefühl! Die ersten zwanzig Minuten schwimme ich ein, erhöhe sukzessive den Takt im ganzen Herz-Kreislauf-System, die zweiten zwanzig Minuten schwimme ich so, als könnte ich noch stundenlang weiterschwimmen und fühle mich wie die Größte (Hallo, ihr hübschen kleinen Endorphin-Teilchen!) und die letzten zwanzig Minuten schwimme ich aus und genieße, dass es immer noch so leicht geht. Ich kann es nur weiterempfehlen, sich einen gemütlichen, passenden Sport für die individuelle Glückshormonproduktion zu suchen, es ist eigentlich recht einfach! Und nie zu spät!