„Haben wir alle noch die innere moralische Klarheit?“
Die Schlagzeile reicht und ich ärgere mich schon. Nein, Onkel Sascha, nein, natürlich haben wir sie nicht.
Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen stellte diese Frage in seiner Eröffnungsrede zu den diesjährigen Salzburger Festspielen den Zuhörer*innen. Oder uns. Oder beiden. Oder sich selbst.
Ich lese natürlich die Rede dann. Sie wendet sich dann doch vor allem an die Verantwortungsträger*innen, weil Onkel Sascha sie da so schön jetzt vor sich sitzen hat, alle zusammen, als wäre er zufällig in die Eliten geraten und würde die Gelegenheit beim Schopf packen. Und kommt ja nicht so oft vor, dass sie alle zusammenkommen, weil Kunst und Kultur. Oder doch nur Verpflichtung im Rahmen der gutbezahlten Berufstätigkeit?
EGAL.
Wo war ich? Ach ja, die innere moralische Klarheit. Wenn Onkel Sascha mich fragen würde, ich müsste ihm sagen, dass ich es ganz persönlich immer wieder äußerst schwierig finde in letzter Zeit, meine Moral innen drin klar zu kriegen. Gerade an diesem Tag finde ich es zum Beispiel schwierig, meinen Glauben an das Bürgerrecht der Versammlungsfreiheit damit zusammenzubringen, dass Rechtsextreme in der Stadt aufmarschieren und für die gewaltsame Deportation von Menschen auftreten und dass die Polizei Leute, die DAS nicht gut finden, dafür aus dem Weg räumt und festnimmt. Ich finde es auch zunehmend schwierig, immer wieder Fotos von hungernden Kindern und Frauen zu sehen, die Verzweiflung in den weit aufgerissenen Augen und Mündern, die leeren Blechschlüsseln von sich streckend, in gefährlich gedrängten Menschenmengen hinter Zäune gepfercht, und dann einen Teil der dafür Verantwortlichen nicht kritisieren zu können, weil das als antisemitisch ausgelegt wird. Und natürlich ist es seit Jahren schwierig, ein fossiliertes Leben zu führen, mit der allumfassenden Abhängigkeit von nicht erneuerbaren Energieträgern, egal, ob man jetzt ein bisschen Fahrrad fährt oder nicht, und zu wissen, dass jeder Sommer der kühlste des restlichen Lebens gewesen sein wird, sei er jetzt hitzewellig oder nicht, vor allem für die Kinder.
Also, lieber Bundessascha, wenn du diese Frage stellst, auch wenn sie an die Entscheidungsträger*innen gerichtet ist, ist sie eigentlich eine Überforderung. Du willst die Menschen, die an den Spitzen stehen, zur Einkehr und zur moralischen Standortbestimmung einladen, aber die wissen und sehen und erleben, dass die erfolgreichsten Politiker*innen und Wirtschaftstreibenden der letzten Jahre sich einen feuchten Kehricht um Moral und Klarheit geschert haben und damit ganz hervorragend gefahren sind. Niemand kennt sich mehr aus, nichts gilt mehr. Die Verheißung dieser Zeit (eine der wenigen, die es überhaupt noch gibt) sind Maschinen, die uns das Denken abnehmen sollen und dabei fröhlich vor sich hin halluzinieren dürfen und weil es eine fixe Idee gibt, dass damit Geld zu verdienen sei, darf das weiter geschehen, auch wenn der Krempel noch mehr sinnlos Wasser und Energie vergeudet.
Unter diesen Bedingungen von innerer moralischer Klarheit zu sprechen, ist fast ein Witz. Deshalb gibt es auch in der ganzen Rede wenige Hinweise darauf, was die Leitlinien der Moral eigentlich konkret sein könnten, nur die Fähigkeit zur Kompromissbereitschaft und zum Sehen des „Großen Ganzen“ wird mehrfach beschworen. Das „nehme ich wahr“, lieber Sascha, und ich ehre und schätze dich und weiß, du kannst auch nicht mehr tun.