Krise und Chance
Es gab hier eine Krise, sogar mehrere, geschichtete, ineinander verwobene, einander bedingende. Nichts wirklich Ernstes und auch nichts Überraschendes eigentlich, sehr gut passend in ein Mittleres-Alter-Leben. Aber dann doch auch unerwartet, weil ich diesmal nicht die Hauptprotagonistin war, nicht diejenige, die den Anstoß gab, sondern die Mit-Leid-Habende, die An-Teil-Nehmende, unfreiwillig. Dann geht nichts mehr, dann fließt nichts mehr. (Außer Tränen, mal wieder, sehr leicht, das war schon lange nicht mehr.) Es kommt auch nichts dabei heraus, was man aufschreiben kann. Keine Leichtigkeit, keine Schönheit, keine Gedanken, die würdig sein könnten, keine Worte, die das Risiko wert sind.
Zum Glück kommt dann ein kleiner Erfolg daher, ein Wagnis im beruflichen Lebensteil, das sich gelohnt hat. Menschen, die in Austausch miteinander kommen in einem Raum, der sich durch meine Initiative gebildet hat, positive Rückmeldungen, ein Beginn von etwas Neuem, das sich wohl erst noch bewähren muss, aber der Start ist gelungen. Und Anfang, Zauber, Sie wissen. Schön, das. Tut gut. Zentriert. Beruhigt. Gibt Sicherheit zurück.
Und Ablenkung hat sich ja auch immer bewährt. Die beiden Freundinnen I. und I. sind seit einiger Zeit wieder unermüdlich in der Einladung zu Tanzveranstaltungen, was mich immer wieder aufs Neue ein wenig überrascht, denn ich habe nicht mehr bzw. noch nicht wieder zuverlässig als Möglichkeit der Abendgestaltung auf dem Schirm, dass man ja wunderbar so eine Nacht mit Plaudern und Tanzen durchbringen kann. Die Settings dafür sind uns so vertraut, wir wurden damit grundsozialisiert sozusagen, die Kontinuität reicht wirklich sehr weit zurück.
Wir gehen diesmal in die Arena, eine der wenigen Besetzungserfolgsgeschichten in dieser Stadt. Mitte der 70er wurde ein großer Schlachthof von Kulturinitiativen bespielt (die Protagonist*innen damals noch eher unbekannte junge Künstler*innen, die später Berühmtheiten der Wiener Musikszene wurden), die Abtragung des riesigen Geländes und damit Neunutzung für Industrie- und Gewerbebauten konnte nicht verhindert werden, aber man überließ den jungen, nach alternativen Lebens- und Kunstformen dürstenden Leuten einen ebenfalls aufgegebenen Schweineschlachthof, der seitdem, von einem autonomen und basisdemokratischen Verein geführt, als Veranstaltungsort genutzt wird.

Meine Erfahrungen mit der Arena setzen in den späten 80ern ein, man muss sich das vorstellen, es fuhren nur irgendwelche obskuren Öffis (Bus? Straßenbahn? ich erinnere mich nur, dass es dann noch ein weiterer Fußweg war) bis so weit hinaus ins Gewerbegebiet, insofern war es superpraktisch, wenn jemand in Bekanntenkreis schon den Führerschein und ein kleines Auto hatte, in das sich dann möglichst viele Leute quetschen konnten. Seit 1991 fährt eine U-Bahn hin und das war eine Revolution, aber erstaunlicherweise war die Arena dann doch noch lange ein recht wilder, freier Ort, wo man zwar gegebenenfalls Eintritt zahlte, aber sich billigeres Bier von der nahen Tankstelle holen und am Freigelände in der Wiese gemütlich trinken konnte, beispielsweise. Die Arena ist Punk, ist Graffiti und mehr oder weniger starke Versiffung, das war damals so und hat sich eigentlich auch nicht geändert, aber inzwischen gibt es – natürlich – genaue Taschenkontrollen, Flaschenabnahmen am Einlass und das Klopapier wird tatsächlich die ganze Nacht lang nachgefüllt. Man kann das Gelände nicht mehr verlassen, die Securities sind so humorbefreit wie alle Securities auf der Welt, auch wenn sie bis zur Nasenspitze zutätowiert sind und die Ohrläppchen von den großen hässlichen Scheibchen schlackern.

Die Partyschiene, die wir besuchen, gibt es seit 1993 (mein Maturajahr) und sie hat eine eigene Wikipedia-Seite. Ich war nicht mehr auf dem Iceberg seit, keine Ahnung, sicher einige Jahre vor den Kindern, im alten Jahrtausend vermutlich. Das sich zahlreich einfindende Publikum teilt womöglich meine Erfahrungen mit Lebensabschnitten, in denen man eine Weile nicht hier war, der Schnitt liegt schätzungsweise nur knapp unter meinem Alter. Die Musik aber ist zum Glück besser und diverser geworden. Die alten NDW- und New Wave-Hadern sind zwar nett aber irgendwie inzwischen doch angegraut, die ganze Große Halle singt enthusiastisch mit bei „Nur Geträumt“, aber ich vermute im Stillen, dass wir diese Musik wirklich nur noch mögen, weil wir dazu das erste Mal geküsst haben. „Sweet Dreams“ lässt mich schätzen, wie oft ich zu diesem Track bereits getanzt habe, es könnte in die tausenden Male gehen, es wird nur zart remixt, damit die Irritation nicht zu groß wird. Es gibt dann noch einen Alternative- und Indie Rock-Floor, wo es binnen kürzester Zeit Saunatemperaturen kriegt, zum Glück gefällt mir die Musik nicht. Der kleinste Floor ist der beste, Electroclash und Beats nennen sie das, mit einem DJ wie früher, einem Menschen mit gutem Gespür für die Bedürfnisse des Tanzvolkes, dort bleiben wir die meiste Zeit.
Und tanzen. Das ist einfach das Beste am Fortgehen, immer schon gewesen. Nichts putzt so gut die Ganglien durch. Es ist eine Frage des Sich-Anheim-Gebens. Es braucht ein bisschen Zeit, bis die nötige Selbstvergessenheit einsetzt und dann durchgängig bestehen bleibt. Alkohol hat früher geholfen, inzwischen brauche ich ihn nicht längst nicht mehr, im Gegenteil, es ist alles so viel einfacher ohne. Genau einmal anstehen an der Bar, der Becher Leitungswasser mit Hollersirup kostet tatsächlich null Euro, wie der freundliche Dreadlock-Barmann informiert, und dieser Becher wird im Laufe der Nacht am Klo viele Male nachgefüllt, unschlagbar billig, zeitsparend und gesund.
Die rhythmische Bewegung nun also, Hüftgewackel und Kurvenspiel, Tanz in der klassischen Disco-Variante als unverbundener Ausdruck eines einzigen Körpers eröffnet natürlich die gedanklichen Möglichkeiten für Annäherung, es erwachen die Instinkte. Wenn man als Frau daran kein Interesse hat und tatsächlich nur für sich selbst tanzen möchte, gibt es eine strenge Regel: Kein Blickkontakt. Und zwar wirklich gar keiner. Am sichersten ist es, wenn man den Blick nicht einmal Richtung Gesichter hebt. Augen zumachen oder Richtung DJ oder Boden schauen. Wenn es doch einmal vorkommt, dass man zu vorgerückter Stunde und ein bisschen müde die Leute beobachtet, muss man dann wieder abschütteln, sich wegdrehen, offensiv Desinteresse bekunden. Es sind viele einsame Wölfe und natürlich auch Wölfinnen unterwegs. Das Spiel der Blicke und Gesten hat sich seit der Jugend überhaupt nicht verändert, es lässt sich nur viel leichter beobachten und für sich selbst manipulieren, je nachdem, wo man selbst gerade im Balzbedürfnis steht. Ganz sicher bin ich mir aber, dass es hier in der Arena kein Awareness-Team braucht. Die eine I. ist offen für das Spiel und wird tatsächlich auch mehrmals angebraten, alle sind aber gut eingeübt und erkennen sofort, wo die Grenzen zwischen Schmäh und der in Wien so genannten Anlassigkeit verlaufen.
Es wird halb drei und ich sollte gehen, in 20 Minuten geht eine U-Bahn, 10 Minuten brauch ich bis zur Station, also geht sich noch ein Track aus, aber gerade ist wieder der gute DJ dran, also noch ein bisschen, nehm‘ ich halt die nächste. So geht das weiter, wenn ich schon mal da bin, ich bin ja eh so selten mal richtig lange fort, na eben. Die Jahre der Kinderverantwortung haben sich sehr nachhaltig eingeschrieben, ich bin nicht da, das ist nicht richtig, was ist, wenn mich jemand braucht und ich realisiere wieder, die Zeit ist vorbei, ich werde nicht mehr gebraucht, das letzte Kind schläft, versichert durch meine Nachricht um halb eins, dass es mir gut geht und ich noch bleibe, ich kann einfach wieder machen, was immer ich will, und jetzt gerade will ich noch ein bisschen tanzen. Die Beine und der Rücken schmerzen etwas aber nicht schlimm, solange es noch geht, nehm‘ ich mir das. Und so dämmert es schon bei der letzten Pause draußen zum Luft schnappen. Wie hab‘ ich das schon damals immer geliebt, wenn der Tag schon wieder anbrach, wenn die Helligkeit alles wieder aufgedeckt hat, was die Nacht verschweigen wollte. Ich überlasse also die eine I. dem verbindlich lächelnden aktuellen Aufriss und die andere I. ihrem Fahrradheimweg und nehme die U-Bahn nach Hause, müde aber nicht unmittelbar schläfrig. Zuhause esse ich ein bisschen, stelle überrascht und glücklich fest, wie umfassend ruhig und zufrieden ich bin und lege mich dann mal ein Stündchen hin.