My Way
Ich gehe meinen Weg. Das klingt jetzt gleich wieder so pathetisch, aber es ist eben so. Ich gehe und habe meinen Weg dafür. Gehen ist die grundlegendste menschliche Fortbewegungsart, buchstäblich der Grund, warum wir die Hände für alles andere freihaben. Und ich finde, jede*r sollte so einen Weg haben, oder, um es weniger dominant auszudrücken, es könnte für jede und jeden nützlich sein, einen solchen Weg zu haben. Tatsächlich haben oder hatten viele meiner Familienmitglieder einen solchen Weg.
Meinen Weg gehe ich seit einigen Jahren, verstärkt natürlich in der Pandemie, als es sonst nicht viele sinnvolle Wege gab, die man gehen konnte. Es ist ein guter Weg, er liegt viel in der Sonne, an einer Stelle weht fast immer ein frischer Wind, er hat Steigungen und Kompressionen, für alle Fälle liegen an meinem Weg Labestationen und Haltestellen für andere Fortbewegungsmittel und es gibt genügend Abzweigungen zu anderen Zielen, wenn ich einmal noch nicht genug gegangen sein sollte. Er hat die Form einer liegenden Acht, aber das liegt nur daran, dass ich nicht zweimal an derselben Stelle vorbeigehen will, einmal lässt es sich natürlich nicht vermeiden, es ist ein Übergang.
So ein Weg ist natürlich auch etwas sehr Privates. Schon oft habe ich überlegt, über ihn zu schreiben, aber wie mache ich das, ohne zu viel zu verraten über mich oder den Weg. Ich mache kaum Fotos bzw. poste ich sie nicht. Ich habe auch nicht sehr oft Begleitung. Aber ich höre fast immer diese Playlist, seinerzeit bei Hannes Tschürtz auf der anderen Plattform gefunden. Ich mag diese Playlist, weil sie sehr lang ist, ich höre sie auf shuffle, weil ich gerne überrascht werde und trotzdem nicht ganz Unbekanntes hören will oder manchmal auch Musik, die mich ein bisschen begeistert oder gute Erinnerungen weckt. Es geht auch um Rhythmus und Takt für die Schritte, abgewechselt mit der ein oder anderen kitschigen Ballade, es fügt sich alles ganz oft sehr schön ineinander mit den Menschen und den Tieren in der echten Welt.
Ja, überhaupt die Menschen. Es ist natürlich kein einsamer Weg, der total geheim wäre, und da wir in einer Großstadt sind, gehen viele Menschen spazieren. Da wir gleichzeitig in einem Grätzl sind, einer Gegend, wo ich lebe und arbeite, treffe ich auch meistens jemand Bekannten auf meinem Weg. Ich frage mich beim Weggehen schon, was heute wieder passieren wird, wem ich begegnen werde. Beim letzten Mal im alten Jahr noch kam mir das Ehepaar S. an einer Engstelle entgegen, Herr S. ging voraus und Frau S. hinter ihm hielt ihn leicht am Arm. Herr S. ist sehr dement, er spricht nicht mehr und muss in allen alltäglichen Handlungen angeleitet werden. Frau S. geht sicher sehr viel mit ihm spazieren und hat gleichzeitig vermutlich seit mehreren Jahren nicht mehr durchgeschlafen. Es ist geplant, dass Herr S. sehr bald in der Pflegeeinrichtung aufgenommen wird, in der ich arbeite und ich weiß, wie es Frau S. damit geht. Als wir aneinander vorbeigehen, schiebe ich nur meine Mütze etwas hoch und nicke ihr zu, ich kann nicht erkennen, ob sie mich anblickt, ob sie mich nicht erkannt hat oder ob sie nur nicht mit mir reden wollte. Das macht auch nichts und gehört zur Abteilung Abgrenzung, ohne die ich meinen Job nicht machen könnte, und damit mir solche Begegnungen nicht das Herz brechen.
Wichtig sind die Scheitelpunkte meines Weges, am Ausgangspunkt ist alles wichtig, doch auf der anderen Seite ist zum Glück nur wichtig, dass die Kerze brennt. Zweimal im Jahr sind auch Blumen wichtig, damit sie den Rest der Zeit eine Freude sind. Aber die Kerze muss gut und verlässlich brennen, bevor ich wieder weitergehen kann, wenn der Wind stark weht und das Feuerzeug versagt, kann das herausfordernd sein. Ganz allgemein kann auch der ganze Weg eine Herausforderung für mich sein, ich sage nur: blühende Forsythien im Jänner, verdorrte Rasen und Sträucher im Sommer, Hitze, in der man nicht gern zu Fuß unterwegs ist und immer nur den Schatten sucht. Wenn es sehr schlimm ist, fahre ich den Weg auch manchmal mit dem Fahrrad, bringe es schnell hinter mich, mache einen Abstecher ins überfüllte Freibad, mitunter mit dem dunklen Wie-Lange-Noch-Gedanken, man kennt das ja inzwischen.
Heute war es auch deutlich zu warm für die Jahreszeit und dennoch ist auf meinem Weg nichts Besonderes passiert, außer dass er mir gutgetan hat. Und vielleicht, dass, genau wie beim letzten Mal ziemlich genau bei der Begegnung mit dem Ehepaar S., die Playlist aus über hundert Stunden dieses wunderschöne Lied noch einmal gespielt hat. Ja, ist ausgespielt, schnauft’s doch, aber von Jeff Buckley und seiner Gitarre interpretiert hat es nochmal seinen ganz eigenen bittersüßen Schmerz.