On neglect

Sie ist weg. WEG! Und ich bin jetzt mal allein. Allein!

Man kann durchaus des Mutter-Seins müde werden und keine Lust mehr auf das ganze Obsorgeberechtigtengedöns haben. Es spricht nur selten jemand aus.

In den letzten Wochen gab es Abende, die sehr still waren, an denen nur das Notwendigste gesprochen wurde. Jegliche Versuche einer Gesprächsanbahnung zeitigten nur sehr einsilbigen Response, verliefen also fruchtlos. Die Rückversicherung, ob irgendwas los oder sie böse sei, hatte umgehend genervtes Aufseufzen und Augenrollen zur Folge. Nein, es sei alles in Ordnung. Sie wolle nur nicht mit mir reden.

Ah gut. Ich will eh auch nicht immer reden. Aber es muss doch nachgefragt, abgeklärt und ausgemacht werden. Immer noch, immer wieder.

Als die Kinder noch klein waren, sprach eine damalige Freundin vom „gesunden neglect“. Wir befanden uns im Albert-Sever-Saal, der sozialdemokratischen Version eines Indoor-Spielplatzes in Wien Ottakring, bereits in Betrieb, bevor es diese eigens etablierten Vorhöfe zur Elternhölle mit Gewinnabsicht gab, sauteuer, stickig, dreckig, laut. Der Albert-Sever-Saal war einfach ein alter Veranstaltungssaal, turnsaalartig, Parkettboden, eine kaum bespielte Bühne. Man hatte Klettergerüste, Hüpfburgen und Bällebäder reingeschmissen und konnte nun Kinder hinterherschmeißen und sie – der jeweilige Herr sei gepriesen! – aus den Augen verlieren, sobald sie nicht mehr dauernd über die eigenen Füße stolperten und halbwegs sicher wo raufklettern konnten. Wir verbrachten zahlreiche Wintertage dort, der Eintritt war recht billig, was dazu führte, dass der Saal neben den Familien mit Migrations- oder Fluchtgeschichte auch Frauen aus orthodox-jüdischen Familien mit ihren Kindern anzog, kein Gedanke an irgendwelche gesellschaftspolitischen Verwicklungen dadurch, wir alle brauchten einfach nur einen Ort, wo wir die Kinder rennen lassen konnten.

Ich schweife ab, der neglect jedenfalls, das Vernachlässigen von Kindern, es hört niemals auf, ein schmaler Grat zu sein. Kinder wollen vernachlässigt werden, sie wollen nicht ständig im Blick der Eltern sein, sie wollen frei sein und laufen und hinfallen und Fehler machen. Eltern wollen auch vernachlässigen, die wenigsten wollen wirklich helikoptern, denn in Wahrheit ist das unfassbar anstrengend und selbstbeschränkend. Aber es können ja dauernd fatale Situationen aus einem zu großen neglect entstehen, Verkehrsunfälle und Fensterstürze, um jetzt nur die krassesten Folgen zu nennen.

Mit einem halberwachsenen Kind wird die Sache nicht wirklich leichter. Sie regelt sich viele ihrer Angelegenheiten selbst und verbittet sich zeitweise auch jegliche Einmischung. Dann wieder muss ich für sie einen Friseurtermin vereinbaren, weil es ihr unangenehm ist zu telefonieren. Sie wird nicht gerne mit mir gesehen, wenn ich zu schulischen oder sonstigen Gelegenheiten irgendwo auftauche, muss eine genaue Choreografie eingehalten werden. Bin ich ihr etwa peinlich? Es ist eindeutig davon auszugehen.

Sie ist also nun ein paar Tage weg, lehnte auch meine Assistenz beim Packen strikt ab, deshalb und wegen einer gewissen Unruhe verließ ich kurz entschlossen die Szenerie, um Luft und Raum zu schaffen.

Neuerliche Nutzung der wirklich sehr superen Bundesmuseencard mit Erstbesuch im Belvedere 21 zur Retrospektive von Hans Haacke, offenbar ein Urgestein der Konzeptkunst, mir bisher unbekannt, aber wie so oft will das nichts heißen. Kritik allüberall, an großen Politiklinien und an kapitalistischer Verwertungslogik im Kunstbereich, an sozialen Rezeptionsbedingungen von Kunst, alles scharf und präzise, viel diskutiert das Projekt des bepflanzten Schriftzuges „Der Bevölkerung“ in einem Lichthof des Reichstagsgebäudes, so mancher Entwurf nicht realisiert, weil zu scharf.

„Calligraphie“ aus 1989, ein Entwurf anlässlich der Zweihundertjahrfeier für den Hof des Palais Bourbon, in dem seit 1789 die Nationalversammlung tagt, ausgelobt vom Präsidenten der Assembleé nationale, des Unterhauses des französischen Parlaments. Der Steinkegel sollte aus zurechtgeschliffenen Gesteinsbrocken aus den Wahlkreisen der Abgeordneten bestehen, darauf in arabischer Kalligrafie das Motto der Französischen Republik stehen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der Wasserstrahl aus diesem Kegel nährte dann Frankreich, anbauen hätte man die vier üblichen Feldfrüchte Frankreichs sollen, im Vierjahresrhythmus, mit einer Brache im 4. Jahr.

Noch davor, in den 60/70er Jahren, fing auch Haacke offenbar an, ganzheitlicher zu denken, als das allgemein en vogue wurde, und definierte einen erweiterten Skulpturenbegriff: „Eine ‚Skulptur‘, die physisch auf ihre Umwelt reagiert, darf nicht mehr als Objekt aufgefasst werden. Der Umfang der auf sie einwirkenden Faktoren reicht ebenso wie ihr eigener Aktionsradius über den Raum hinaus, den sie materiell einnimmt. Daher verschmilzt sie mit der Umgebung zu einer Beziehung, die sich besser als ein ‚System‘ voneinander abhängiger Prozesse verstehen lässt.“

Es könnte sich dabei um Bohnen handeln.

In der Beschreibung zu dieser Installation mit dem Titel „Gerichtetes Wachstum“ stehen im übrigen nur Bohnen, Erde und Zwirn. Was ist mit Wasser, mit Sonnenlicht? Ist das Verschmelzen nicht mehr beschreibbar, besteht keine Beschreibungserfordernis mehr? Eines der Pflänzchen blüht bereits nach ca. 3 Wochen Ausstellungslaufzeit, ein anderes ist schon vertrocknet.

Überhaupt Wasser. Man denkt ja dieser Tage recht oft über Wasser nach, auf dem Weg zum Belvedere 21 sehe ich, dass im Schweizergarten einige Teichanlagen trockengefallen sind.

Auf dem Boden des Ausstellungsraumes ist eine kleine Pumpe installiert, die Wasser durch Plastikschläuche in weitläufig verzweigter Anordnung pumpt, immer wieder im Kreis, konstant und etwas nervig brummend. Anfangs bin ich noch vorsichtig, am Ende passiert es mir auf der Jagd nach einem Foto, dass ich die Markierung übersehe und fast auf einen der Schläuche trete. Im Bild die Installation, mit der ich fast verschmolzen wäre, und die aufmerksamen Museumsbediensteten, die mich durch lautes Rufen daran gehindert haben, ich bin sozial beschämt und betreten, aber es sei „eh nix passiert“. Davor pustet ein langsam hin und her kippender Ventilator in ein blaues Segel, es wirkt sehr meditativ.

Man darf sich noch ein wenig mehr soziologisch selbst bespiegeln und an einer Besucher*innen-Befragung teilnehmen, was ich natürlich sofort mache. Knapp über 50% aller bisher ca. 1000 Teilnehmenden interessiert sich für Kunst aus beruflichen Gründen, zum Glück gehöre ich nicht dazu, ich darf sie privat genießen und auch noch sorglos darüber schreiben. Aber, noch schlimmer: Mehr als 70% der Besucher*innen der Ausstellung haben einen Abschluss einer Universität oder Fachhochschule. Ich auch, da kann ich mich nicht herausreden. Das gibt mir das Selbstbewusstsein, dorthin zu gehen und auch noch meine Gedanken dazu festzuhalten, auch wenn ich so tue, als könnte ich alles noch mit einem unverstellt-proletarischen Blick betrachten.

Auf dem Heimweg dann dieses Werbeplakat. Ein Claim des nahen Heeresgeschichtlichen Museums aus besseren Tagen. Wieviel neglect gab es da und was sind die Folgen? Es steht zu befürchten, dass er nicht dort bleiben wird, dass wir mit Skulpturen und Objekten dieser Art wieder auf’s Unersprießlichste verschmelzen könnten.

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