Rachecliquen
Vorwitzig merkte ich auf Social Media an, ich hätte „Thelma & Louise“ schon mindestens zehnmal gesehen, aber das reicht gar nicht. Ich kann ganze Dialoge mitsprechen, zumindest bei der leider schauderhaften deutschen Synchronisation.
Aber beim unvermeidlichen Rewatch gestern Abend konnte ich zum ersten Mal die komödiantischen Elemente nicht mehr so richtig schätzen. Warum ist der Nazi-Polizist nicht widerstandsfähiger gegen die Bedrohung mit einer Waffe? Es wäre ihm vermutlich gar nicht besonders schwergefallen, die zarte Thelma körperlich zu überwältigen, aber er dekompensiert völlig und kriecht als weinendes Bündel in den Kofferraum. (Die Szene mit dem kiffenden Rastafari am Bike in der Wüste mag ich dagegen noch immer.)
Und dann der Tanklastwagen, der in die Luft fliegt. Hochbefriedigend daran der Trialog, der sich davor entspinnt, dass die Frauen das sexistische, übergriffige Verhalten des Lkw-Fahrers klar ansprechen, verurteilen und eine Entschuldigung verlangen. Aber dass die Frauen es schaffen, den Lastwagen so zielsicher zu treffen, dass er explodiert und dass sie selbst nicht dabei verletzt werden, nun ja. Aber womöglich ist das alles auch eine überkritische Sicht auf Elemente des Films, die gar nicht den Anspruch auf Realismus erheben.
Dennoch, sehr aufgewühlt schon wieder, noch immer, versuchte ich gestern Nacht zu schlafen. Ich dachte über den Film nach und stellte fest, dass die Hauptrolle in diesem Road-Buddy-Movie eigentlich Freundin Faustfeuerwaffe spielt. Hätten die Frauen keine 38er dabeigehabt, hätte Louise Harlan nicht damit bedrohen können, ihn nicht davon abhalten können, Thelma zu vergewaltigen, und sie hätte ihn letztlich nicht erschießen können. Auch im weiteren Verlauf der Ereignisse spielt die Knarre eine unverzichtbare Rolle, Thelma überfällt damit den Drugstore, sie bedroht den Polizisten, sie schießen, nachdem sie schließlich beide eine Schusswaffe haben, den Lastwagen kaputt. Die Selbstermächtigung dieser Frauen steht und fällt also mit der schrittweisen Aneignung eines Zwangsmittels unter der klaren Androhung von Gewalt, seien sie anfangs auch noch so unbeholfen damit und später als kleinkriminelle Adeptinnen auch noch so höflich dabei.
Ich muss auch an „Jackie Brown“ denken, den einzigen Tarantino-Film, den ich wirklich gern mag, an die Szene, wo der fiese Ordell Jackie zu Hause besucht in der Absicht sie zu töten und Jackie ihrerseits mittels der Waffe, die sie dem Kautionsagent Max entwendet hat, den Spieß umdreht. Wie man mitzittert, dass Jackie das Heft des Handelns in der Hand behält, wie man sie bewundert, dass sie cool und überlegt und überlegen bleibt, so etwas sah man nicht oft im Kino mit einer weiblichen Protagonistin, das berührte mich seinerzeit auch persönlich, weil ich verstand: Es reicht nicht, die Macht in der Hand zu haben, man muss sie auch sicher führen können, sie sich aneignen und keine Angst haben, sie im Zweifelsfall auch einzusetzen.
Vor einiger Zeit habe ich es anlässlich der Lektüre von Mareike Fallwickls Buch „Die Wut, die bleibt“ sehr kritisch gesehen, wenn Frauen Gewalt eingesetzt haben, um Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und zu sanktionieren. Jetzt frage ich mich, warum ich Gewalt und Gesetzesübertretungen bei "Thelma & Louise" als gerechtfertigte Befreiungsschläge sehen kann und bei diesem Buch als Fremdkörper im Plot wahrgenommen habe, ich zweifle ein bisschen an meinem harschen Urteil von damals. Von der Konsequenz her scheint mir das Drehbuch des Films wahrhaftiger zu sein, die Frauen haben keinen Ausweg mehr und stürzen in den Grand Canyon (auch wenn die letzte Einstellung versöhnlich andeutet, dass sie magischerweise entschweben). Im Buch reist die Rächerinnen-Gang rund um Lola ab zu neuen Rachetaten, unbeeinflusst von irgendwelchen inneren oder äußeren Zweifeln, in eine ungewisse aber doch vorgezeichnet scheinende Zukunft.
Auch im kürzlich gesehenen, atmosphärisch sehr überzeugenden Film „Bird“ spielt eine Racheclique eine Rolle, hier allerdings von jungen Burschen, die missbrauchende Männer aufsuchen und sie zusammenschlagen, die weibliche Hauptfigur des Films wollen sie zu ihrem eigenen Schutz dezidiert nicht dabeihaben. Als sie selbst tatkräftigen Beistand gegen den gewalttätigen Freund ihrer Mutter braucht, muss der Film für die Durchsetzung ihrer Gegengewalt und ihre Befreiung vom Tyrannen ins Fantastische ausweichen, zur titelgebenden Vogelfigur.
Wie auch immer, der Subtext lautet: Männer kapieren’s anders nicht. Die Welt, in der wir leben, kennt nur das Recht des Stärkeren, wer tatsächlich die Knarre hält oder die Schläge austeilt, ist letztlich egal, aber Gewalt oder deren Androhung ist unverzichtbar, um die eigene Integrität zu schützen und den eigenen Willen durchzusetzen. Dabei hat von Männern und/oder Stärkeren ausgeübte Gewalt ein Vorrecht, sie wird weniger hinterfragt und muss erst von den Opfern zweifelsfrei bewiesen werden, und wenn das nicht möglich ist, gilt die Gegengewalt als ungerechtfertigt.
Mir gefällt das nicht, aber möglicherweise stimmt es. Pazifismus in allen Ehren, aber man muss sich wehren können, darf sich nichts gefallen lassen. Oder dreht sich dann die Gewaltspirale immer weiter? Fragen, auf die ich keine abschließende Antwort habe, aber sie scheinen auch weltpolitisch äußerst entscheidend, überhaupt seit gewissen Überfällen auf Nachbarstaaten, sie werden uns wohl weiter beschäftigen.