Reading – Lily King: Euphoria

Vorweg, Ms King ist eine Meisterin der genauen, mitfühlenden Beschreibung, vor allem von Menschen, etwa der willensstarken, fleißigen, ebenfalls zu Mitgefühl fähigen US-Anthropologin Nell Stone, ihrem mürrischen, bisweilen unbeherrschten und doch ehrgeizigen australischen Ehemann Schuyler Fenwick, genannt Fen, ebenfalls Anthropologe und dem Dritten im Bunde, der sensible, etwas naive und richtungslose Engländer Andrew Bankson, auch er natürlich Anthropologe. Sie alle befinden sich Anfang der 1930er Jahre im heutigen Papua-Neuguinea und tun, was Anthropolog*innen in dieser Zeit eben so machten, sie „beforschten“ die „Fremden“, was vor allem hieß, einen geeigneten "Stamm" zum Beforschen zu suchen, dessen Mitglieder dazu zu bringen, ihnen auch etwas von ihren Geheimnissen zu erzählen, sich einen Reim auf seltsame Beobachtungen zu machen und nicht zu krank zu werden.

Die drei haben reale Vorbilder, es handelt sich natürlich um die berühmte Margaret Mead, ihren damaligen Ehemann Reo Fortune und ihren späteren Ehemann Gregory Bateson. Kings Adaption dieser Dreiecksgeschichte erzählt über die Verletzungen und Sehnsüchte der Charaktere, die Zuneigung und gegenseitige Inspiration, die zwischen allen dreien aufkeimt und ganz nebenbei werden die Fragen der vermeintlichen Objektivität in der Anthropologie als Sozialwissenschaft verhandelt, Fragen, die seinerzeit erst so richtig anfingen, gestellt zu werden. Was können die Westler*innen bei den „fremden Völkern“ beobachten und erfragen und erforschen und würde das alles in der gleichen Weise passieren, wenn sie nicht dabei wären? Was erfahren sie wann und wie von wem? Welche Dinge kann eine Frau von Frauen und Kindern erfahren, und sind das andere als die, die ein Mann von Männern erfährt? Welche Rolle spielt, wofür sich der*die Anthropolog*in überhaupt interessiert? Was ist mit den Eigeninteressen der Anthropolog*innen nach glänzenden Universitätskarrieren, genährt durch bahnbrechende neue Entdeckungen in Monografien oder, noch besser, in auflagenstarken Bestsellern? Und wer, verdammt nochmal, hat die eigentlich eingeladen, einfach daherzukommen und irgendwen beforschen zu wollen, sich ein Haus bauen, sich bekochen, sich die Wäsche machen zu lassen?

In grauer Vorzeit habe ich das alles im Rahmen eines Universitätsstudiums schon einmal durchdacht und zum Erwerb eines popligen akademischen Titels, der mir heute im Arztwartezimmer meistens peinlich ist, ebenfalls eine kleine Feldforschung gemacht, aus Geldmangel zu Hause und mit Menschen, die aus einer „Fremde“ hierherkamen und/oder sich immer noch fremd hier fühlten. Meine Forschung war nicht besonders gut, ich bin zu wenig neugierig (Bankson sagt im Buch über Nell, sie sei eine typische amerikanische „nosy parker“) bzw. ist es mir unangenehm, aus zurückhaltenden Leuten Geheimnisse herauszukitzeln. Aber gewisse Fragen habe ich mir ins spätere Leben mitnehmen können: Wer erzählt was wem und mit welchem Interesse? Welche Rolle spielt es, dass ich zuhöre, oder dass eine Kamera zuschaut und dass ein Vorteil oder Nachteil daraus entstehen könnte? Und wenn alles erzählt wird, gibt es dann so etwas wie eine objektive Wirklichkeit im Leben von Menschen überhaupt oder sehen wir immer nur, was wir sehen wollen und können, wofür wir bereit sind, es wahrzunehmen und danach zu handeln?

Aber diese Fragen beschäftigen uns ja alle andauernd. Lest einfach das Buch, wenn man all das weglässt, ist es außerdem noch eine schön herzergreifende Liebesgeschichte.