Reading: Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Was uns entgangen ist.

Mit diesem Satz endet das Buch, das die vergessenen, übersehenen, marginalisierten und abgewerteten Autorinnen der Gruppe 47 in den Blick nimmt. Seifert muss sich tatsächlich auf akribische Spurensuche begeben und alle verfügbaren Quellen durchforsten und als Bild entsteht: Entweder wurden die schreibenden Frauen überhöht als Säulenheilige oder, nach Kräften unterstützt vom Feuilleton, als sexualisierte Körper betrachtet und bewertet, was erlaubte, ihre Literatur weitgehend zu ignorieren (bei den besonders innovativen und erfolgreichen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger musste teilweise beides gleichzeitig geschehen). Die männlichen Kriegsheimkehrer der Gruppe wollten den radikalen Neuanfang, die sog. „Kahlschlagliteratur“, aber es gelang ihnen offenbar nur unzureichend, sich selbst zu reflektieren oder etwaige Veränderungen in den literarischen Produktionsbedingungen. Die neuen Themen von Geschlechter- und Familienbeziehungen, die Frauen schon damals einbrachten, wurden als nicht „literaturfähig“ abgestempelt und auch ihr Mut in Stil und Form wurde schlicht nicht ernst genommen.

Kopfschütteln hervorrufend streckenweise die Beschreibungen des autoritären Führungsstils des Spiritus Rector der Gruppe 47, Hans Werner Richter. Boys will be boys, soldiers will be soldiers? Offenbar stellte niemand ihn und sein Handeln wirksam in Frage, weder die von ihm geschaffenen Strukturen (die hermetische Einladungspolitik, die Methode des Vorlesens und „Gerupft-Werdens“) noch seine Person als solches. Auf Wikipedia ist zu lesen: „Ferner wurden viele hoffnungsvolle Jungpoeten durch ihr traumatisches Erlebnis bei der Gruppentagung doch noch von ihrem Berufswunsch abgebracht. Richter hielt es für eines der beiden größten Verdienste der Gruppe 47, auf solche Weise „viel schlechte Literatur verhindert“ zu haben.“ Man könnte hier also gendern und hinterfragen, ob die Werke der Jungpoetinnen tatsächlich so viel schlechter waren, dass sie so wenig Eingang in den Literaturkanon des deutschsprachigen Raumes der Nachkriegsjahre gefunden haben. Einige der Autorinnen hatten nämlich sehr wohl populäre Verkaufserfolge zu verzeichnen, aber von einer Aichinger, Wohmann oder Frischmuth als prägend für die deutschsprachige Literatur nach 1945 spricht seltsamerweise trotzdem heute niemand.

Hart auch das letzte Kapitel, in dem dieses prototypische Beispiel von struktureller Benachteiligung nochmal so richtig stringent dargestellt wird und das auch überzeugend argumentiert, dass es bei der so durchgängigen Abwehr auf Seiten der männlichen Kollegen vor allem um Angst ging. Angst vor Konkurrenz, vor Bedeutungsverlust. Ich lerne, dass #notallmen tatsächlich irrelevant ist. Nicht unzutreffend, aber irrelevant. Nicht alle Männer teilen sexistische Auffassungen, aber alle Frauen sind den Auswirkungen derselben ausgesetzt. Es gibt kein anderes Leben für sie, keine Ausweichmöglichkeit.

„Jede Frau erfährt Gegenwind und Kritik. Außergewöhnliche Frauen erfahren besonders viel davon. Und diese Kritik existiert immer in einem sexistischen Kontext, genauso wie alles andere im Leben einer Frau.“ (Jia Tolentino)

Welche Autorinnen und Werke es wiederzuentdecken gäbe, könnte man auch fragen. Sind sie noch zu kaufen oder in Büchereien zu leihen, werden sie neu aufgelegt?

Damit ich diesen Namen weiter nachgehen kann, wenn ich mein ausgeliehenes Exemplar des Buches zurückgebe, hier sind sie:

Ruth Rehmann

Ingrid Bachér

Ingrid Schneider-Lengyel

Ilse Aichinger

Ingeborg Drewitz

Barbara König

Gabriele Wohmann

Gisela Elsner

Christine Koschel

Christa Reinig

Griseldis L. Fleming

Helga M. Novak

Elisabeth Borchers

Elisabeth Plessen

Barbara Frischmuth

Renate Rasp

 

(Übrigens habe ich früher in diesem Jahr den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch gelesen. Obwohl ich sonst zu allen Büchern, die ich gerne gelesen habe, dieses Jahr eine Minirezension auf meinen Masto-Account gestellt habe, habe ich es für dieses Buch verabsäumt. Nicht weil ich es nicht mochte, ich habe das Lesen sehr genossen, das Eintauchen in die Gedanken- und Gefühlswelt meines literarischen Vorbildes seit Jugendtagen, die Eleganz im Denken und Formulieren, die Leidenschaft und Leidensfähigkeit, die Intimität, die die beiden Liebenden verband. Aber es kam mir auch immer wie eine Respektlosigkeit und Grenzüberschreitung vor, den Wunsch Bachmanns zu ignorieren und diesen Briefwechsel überhaupt zu publizieren, damit wir in ihre gequälte Seele blicken konnten. Denn worum ging es bei den beiden, die buchstäblich von ihrer ersten Begegnung an wussten, dass ihre Liebe nicht lebbar sein würde: Um die Unmöglichkeit für diese beiden leidenschaftlichen Schreibenden, die Anforderungen, die sie an sich selbst und an eine Liebesbeziehung stellten, mit einem gleichberechtigten, produktiven und erfolgreichen Berufsleben in Einklang zu bringen. Um den Überschwang, den eine Liebe mit sich bringt und die Ernüchterung des Schmerzes, um Loyalität und Enttäuschung, um Vertrauen und Verrat. Ein wenig sensationsheischend einfach. Wie schade, denkt man sich. Diese tragischen Figuren, vor allem Bachmann, weil ihre Medikamentensucht sich am Ende bereits abzeichnet. Letztlich dieselbe Vorgehensweise, die auch Seifert kritisiert: Die Autorin tritt als tragische Antiheldin vor ihr Werk und letzteres wird genau damit abgewertet.)

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