Reading: Octavia E. Butler - Die Parabel vom Sämann

Ich lese für gewöhnlich keine dystopischen Romane. Ich muss meine diesbezüglichen Fantasien nicht auch noch anstacheln.

Warum ich diesen begonnen habe, ich weiß auch nicht. Schon das zweite Mal jetzt. Ich hole hier wohl etwas an englischsprachiger, einigermaßen marginalisierter Populärkultur nach, an Science Fiction wie Ursula K. Le Guin, ein Erfahrungsschatz, der in den sogenannten Leitmedien nicht vorkommt, aber zumindest in der Bücherempfehlungsbubble, in der ich mich befinde, stark vertreten ist.

Mehrmals wollte ich es schon wieder hinwerfen. Aber es hat mich nicht losgelassen, wäre eine Niederlage gewesen. Und es schien jetzt gut zu passen, das Buch ist in Tagebucheintragungen strukturiert und die erste beginnt am 20. Juli 2024, von hier aus gesehen nächste Woche. Und meine Tochter ist auch fünfzehn Jahre alt. Als würde das irgendetwas bedeuten.

Nun also, Kalifornien, Lauren, junge Schwarze Frau mit Predigervater, Stiefmutter und Halbgeschwistern in einer Gated Community. Es ist immer heiß und es regnet fast nie, Wasser ist rar und teuer, man lebt hinter der Mauer von selbst Angebautem und ist einigermaßen sicher, eine Zeit lang zumindest. Von Anfang an passt der Zustand der öffentlichen Ordnung nicht ganz zu der trotz allem übrigen Infrastruktur. Außerhalb der Mauer leben nur die Verdammten dieser Erde und marodierende Banden. Auf Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen ist selbstverständlich kein Verlass mehr, aber wozu braucht man dann noch einen Collegeprofessor wie Laurens Vater, noch dazu außerhalb der Mauer? Die kleine Gemeinschaft von einigen Familien wird schließlich folgerichtig überfallen und niedergebrannt, von Menschen unter dem Einfluss einer Droge, die Feuer zu einem sexuellen Vergnügen macht. Lauren verliert ihre gesamte Familie und flieht, gemeinsam mit anderen Überlebenden, nach Norden.

Lauren ist selbstverständlich etwas Besonderes. Eine Hyperempathin, die den Schmerz anderer Menschen wie ihren eigenen spüren muss. Eine Philosophin, die aus dem christlichen Glauben ihres Vaters ihre eigene apokalypsengeeignete Religion ausdestilliert, genannt „Earthseed“. Eine kompromisslose Kämpfernatur, die das Verderben kommen sieht, sich wappnet, eine Prepperin, wie man heute sagen würde, aber eine von den Guten.

Doch wieder, der chaotische Zustand der Welt, in der sie mit ihrer kleinen Gemeinschaft nach einem neuen sicheren Ort sucht, steht in krassem Gegensatz zu ihren normalen menschlichen Bedürfnissen auf ihrer Wanderung, die sie doch immer wieder stillen können, sie können Wasser, Proviant und Ausrüstung kaufen, sie haben Waffen und überleben diverse Angriffe. Wie geht sich das alles aus, fragt man sich. Wie kann eine Welt der Gesetzlosigkeit, der unmittelbaren und allgegenwärtigen Gewalt, des Mordens um des Überlebens Willen, ja, sogar des Kannibalismus, vereinbar sein mit Supermärkten, zwar schwer bewaffnet gesichert, aber dennoch offen für jede*n, mit Wasserstationen? Wer produziert noch die Waren, wer verwaltet die Zugänge zu Wasser, woher kommt es, wenn es so trocken ist? Es passt nichts so richtig zusammen.

Die Stärke des Romans liegt in der Beschreibung dessen, was sich in der langsam anwachsenden wandernden Gruppe abspielt, im Wechselspiel von anfänglichem Misstrauen und langsam wachsenden Vertrauen, in den Momenten des mitmenschlichen Handelns gegen das allgemeine Postulat vom Recht des Stärkeren mit der größeren Knarre. Ingroup – Outgroup. How to get into the group. Der Schutz von Schwächeren, Kindern, stillenden Müttern, Kranken. Die neue Religion, die Lauren entwickelt und mit ihrer Gruppe zu teilen beginnt, wirkt dagegen wie ein Fremdkörper im Plot, plausibilisiert dadurch, dass viele der Protagonist*innen nicht lesen und schreiben können und daher jeder Form der intellektuellen Auseinandersetzung gegenüber aufgeschlossen sind.

Ich weiß immer noch nicht, warum ich gerade dieses Buch zu Ende lesen musste. Vielleicht doch, um meiner Vorstellung einer zusammenbrechenden sozialen und politischen Ordnung einen realistischeren Anstrich zu geben. Das Buch wurde 1993 geschrieben, damals war ich gerade eine junge Frau, die davon ausgehen durfte, ihr Leben in relativer Sicherheit und Wohlstand noch vor sich zu haben. Wir sind 2024 nicht so weit, wie Butler es vorausgesehen hat aber wir nähern uns tatsächlich an. Aber ich weiß eins, wenn das Wasser tatsächlich ausgeht, wird es nichts von diesen wenigen hoffnungspendenden Aussichten geben.