Reading: Rutger Bregman – Im Grunde gut
Der Autor, man erinnert sich, ein frecher Bursche aus den Niederlanden, überaus erfrischend goschert, wie man sagt. Er scheint einer dieser jungen Leute zu sein, die es auch wirklich persönlich reizvoll finden, unangenehme Wahrheiten anzusprechen und sie an geeigneten Stellen den geeigneten Leuten um die Ohren zu hauen. Alle mögen das, er wirkt schon auch ein wenig selbstverliebt dabei, aber solang er die Wahrheiten sagt, die sonst nicht so nonchalant vorgetragen werden, können ihm sehr viele Menschen zustimmen und es hat ihn weltberühmt gemacht.
Dieses Buch nun also: Bergpredigt reloaded. Für einen Atheisten eigentlich ein sehr christlich geprägtes Buch, auch wenn Jesus tatsächlich erst auf den allerletzten Seiten höchstselbst zitiert wird. Andere Wange hinhalten und so weiter, Sie kennen das und darum geht es auch kapitelweise.
Nun, ich möchte hier keinesfalls zynisch werden, denn „(i)n Wirklichkeit ist gerade der Zyniker weltfremd“. Ich halte dieses Buch im Gegenteil für ein wichtiges Buch, gerade auch angesichts seines wirtschaftlichen Erfolges. Es tut einer in der Seele gut zu lesen und flüssig und mitreißend argumentiert zu bekommen, dass der Mensch im Grunde eine verspielte, vertrauensselige Spezies ist, dass das Gute im Menschen ein belastbares Fakt ist und man es glauben darf und danach handeln. Dass Kontakt zum Abbau von Ängsten und der Ablehnung Fremder führt, dass man „(v)on den schönsten Dingen im Leben (...) man nur dann mehr (bekommt), wenn man sie verschenkt: Vertrauen, Freundschaft, Frieden“, es sind truisms, die jeder halbwegs sozialisierte Mensch kennt und zumindest ein paar Mal im Leben als zutreffend erfahren hat. Seltsam, dass es trotzdem so schwer ist, das Leben danach auszurichten, in diesem Wissen täglichen Umgang zu pflegen oder große Ziele zu formulieren.
„Das Böse ist stärker, aber das Gute kommt häufiger vor.“
„Das Gute besiegt das Böse durch seine schiere Überzahl.“
Das Gute kommt nicht spektakulär und laut daher, sondern in den vielen kleinen alltäglichen Dingen, im Alltagskommunismus der Familien und anderer Lebens- und Arbeitsgemeinschaften (ja, Bregman hat seinen Graeber gelesen), in der Selbstverständlichkeit, dass wir nur durch diese Kooperationen überhaupt überleben, geschweige denn wachsen können. Der Hobbesche „Bellum omnium in omnes“ wird dekonstruiert, Rousseau hatte doch recht und „Krieg ist nicht sehr tief in unserer Kultur verwurzelt“.
Mein Beruf ist es, mit Menschen in Situationen zu arbeiten, in denen grundlegende Fakten des Menschseins sehr deutlich zutage treten und alles andere Streben als unbedeutend hinter sich lassen, namentlich seine Endlichkeit. Die zehn Lebensregeln im Epilog, die Handreichung, um die Erkenntnis, dass der Mensch im Grunde gut ist, in die alltägliche Lebenspraxis zu übersetzen, decken sich stark mit meiner Erfahrung. Und auch die wirklich große Angst, die mich von Zeit zu Zeit erfasst, dieses tiefe, sich schon leicht psychotisch anfühlende Unwohlsein, die Panik, die sich Raum nehmen will, Sie kennen auch das bestimmt, das Klima, der Faschismus, was in aller Welt sollen wir bloß tun? Auch dabei hilft es mir. Darum referiere ich die Regeln hier, damit ich wieder darauf zurückkommen kann:
I. Geh im Zweifelsfall vom Guten aus
II. Denke in Win-Win-Szenarien
III. Verbessere die Welt, stelle eine Frage
IV. Zügle deine Empathie, trainiere dein Mitgefühl
V. Versuche, den anderen zu verstehen, auch wenn du kein Verständnis aufbringen kannst
VI. Liebe deinen Nächsten, so wie auch andere ihre Nächsten lieben
VII. Meide die Nachrichten
VIII. Prügele dich nicht mit Nazis (oder: Strecke deinem größten Feind die Hand hin)
IX. Oute dich, schäme dich nicht für das Gute
X. Sei realistisch
(Im Nachlesen, was Rutger Bregman denn aktuell so macht, fand ich dieses ganz rezente Interview. Mir will scheinen, er vertraut seiner eigenen Medizin nicht ganz und will die Verbesserung der Welt auf eine neue Ebene heben, rascher, unternehmerischer, disruptiver, aber von der anderen, guten Seite. Ich nehme an, er ist Vater geworden und spürt nun den Auftrag noch mehr, die Welt besser zu hinterlassen, als er sie vorgefunden hat. Nun, ich fühle mich nicht berufen, meine „moralische Ambition“ überkochen zu lassen, sondern bleibe im Kleinen, bei meinen Kindern, bei meinen Klient*innen. Wie mich gibt es viele und wir gestalten die Welt, vielleicht nicht mit Blick auf die Zukunft, aber in diesem Augenblick der Gegenwart.)