Reluctant Travel: Hamburg

Es ist ja so: Ich reise nicht übermäßig gern. Das ist überhaupt nicht mehrheitsfähig, es gibt so viele Menschen, die von nichts anderem schwärmen als ihren vergangenen oder kommenden Reisen. Ich bin jedes Jahr im Herbst erleichtert, wenn die obligatorische Urlaubszeit vorüber ist und nicht mehr von mir erwartet wird, irgendwo gewesen zu sein und euphorisch davon zu berichten. Ich bin nicht gerne wo fremd und unvertraut, es stürzt mich in eine existenzielle Krise, ich fühle mich dann leer und unsicher, unbehaust, wie ein kleiner Einsiedlerkrebs auf der Suche nach seiner Schnecke. Ich wäre wohl eine schlechte Migrantin, glaube ich. Es liegt sicher auch daran, dass ich meine Heimatstadt Wien so sehr liebe, sie bietet mir eigentlich schon alles, was ich zur Erholung brauche und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.
Weil es aber andererseits auch langweilig ist, das ganze Jahr tagein tagaus am gleichen Ort zu sein und man hin und wieder etwas Tapetenwechsel braucht, beuge ich mich dem Diktat und plane gegen den Sommer hin dann doch kleine Reisen. Ich habe dabei sogar Schwierigkeiten, mir geeignete Reiseziele zu überlegen, es gibt kaum Orte, von denen ich fest annehmen muss, dass ich gerne mal dort gewesen sein möchte. Andererseits ist das auch wieder entlastend, denn ich kann einfach irgendwohin fahren, es muss auch nicht weit weg sein und ich werde es voraussichtlich genießen, ich bin ja immerhin mal nicht zu Hause.
(Das Ganze hat natürlich auch einen sozialen Aspekt, denn ich habe Familie und Kindern muss man ja was bieten. So absolvierte ich die vergangenen Jahre mehrere Familienurlaube in kompatibler Form: außerhalb einer Stadt, irgendwo an Salz- oder Süßwasser, viel Bewegungsfreiheit, nicht kochen müssen. Offen gestanden fand ich diese Urlaube sterbenslangweilig, vielleicht genauso langweilig wie den Alltag mit jüngeren Kindern. Zum Glück sind die Kinder nun größer, es muss nur noch einem Kind etwas geboten werden und egal, was man diesem Kind, dieser Jugendlichen aktuell bietet, es ruft jedenfalls Naserümpfen hervor, insofern ist es auch wieder ziemlich egal, wohin man fährt. Ein Salzkammergutsee also dieses Jahr, Wasser, Wälder, gutes Wetter, es war sehr schön.)
UND DANN. Dann wagte ich es, eine kleine Reise ALLEIN zu planen. Wenn man die Fastenkuren nicht mitzählt (und die würde ich nicht unter Erholung subsumieren), war es meine erste Urlaubsreise allein seit 2001. (Ich verbrachte damals eine denkwürdige Woche auf einer Baleareninsel, in dessen Verlauf der junge Mann, den ich gerade am Strand kennengelernt hatte, eines Tages aufgewühlt von einer Flugzeugkatastrophe berichtete, die seine Mutter im Fernsehen gesehen hatte. Ich wunderte mich noch, warum er mir das erzählt und was das mit uns zu tun hat, Internet am Mobiltelefon hatten wir ja noch keins.)
Ich fuhr also für ein paar Tage nach Hamburg. Das schlechte Gewissen war mild, denn die Jugendliche schien in freudiger Erwartung, die Wohnung ganz für sich und ihre Übernachtungsfreundinnen zu haben. Ich nahm Nachtzüge, denn ich möchte nach wie vor Flugreisen so gut es geht vermeiden. Und siehe da, ich habe es SEHR genossen. Es war eine großartige Erfahrung, jeden Weg, den ich in diesen Tagen ging oder fuhr, vollständig selbst autonom und ohne Beeinflussung von außen oder Rücksichtnahme auf irgendwen und dessen oder deren Vorlieben oder Befindlichkeiten entscheiden zu können. Ich brauchte wieder einige Zeit, bis ich mich daran wirklich gewöhnt hatte, nebst dem Fremdheitsgefühl.
Hamburg hat für Wiener Augen eine kühle Schönheit, nüchtern und sachlich, kein ornamentales Geschnörkel sondern glatter roter Backstein und Glas, wir sind nobel, denn das alte Geld adelt uns, soll so sein. Und dabei waren die Hamburger*innen so ausnehmend nett zu mir. Diese Stadt stiehlt kein Herz, sondern legt freundlich den Arm um eine und sagt, dass sie sich ehrlich freut, dass man mal vorbeigekommen ist. Was den Hamburger mit der Wienerin verbindet, ist Herzlichkeit gepaart mit einer gewissen Freude an hinterfotzigem Witz, damit kann ich außerordentlich gut leben, ich muss mich schmähmäßig praktisch gar nicht umstellen.
Ich hatte während der ganzen Zeit überhaupt keine Lust, irgendetwas über Hamburg ins Internet zu schreiben, ich war so gut beschäftigt mit Schauen und Wahrnehmen und Wohlfühlen, dass ich die Ablenkung gar nicht brauchte. Für die Familie zu Hause machte ich natürlich zahlreiche Fotos und Filmchen, um sie an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen, ich schickte alles unkommentiert und im Pulk. Hier für euch im Rückblick also nur ein paar Faszinosa aus Hamburg.
Der Alte Elbtunnel: Hamburg ist ja eine tolle Fahrradstadt, brett’l-eben, wie man bei uns so sagt, dazu überall baulich gut abgetrennte Fahrradanlagen. Die Radler*innen und auch die Fußgänger*innen nutzen äußerst gleichmütig einen über hundert Jahre alten Tunnel unter der Elbe, so als wäre es völlig selbstverständlich, dass ein gekachelter Gang auf einer Länge von einem halben Kilometer, mit hübschen Wandreliefs verziert, 25 m tief unter einem Fluss hindurchführt. Man nimmt einen alten hölzernen Lastenaufzug, kann während der 30 Sekunden Fahrzeit g’schwind die neuesten Handynachrichten checken, natürlich ist die Durchquerung völlig umsonst, Kinder lassen ihre Stimmen in dem halligen Gang ohrenbetäubend kreischend hin und her fliegen und auch Tourist*innen schätzen einen kleinen Spaziergang in 10 Grad kühlerem Ambiente an einem klimakatastrophenheißen Augusttag.



Der Hausengel: Ich liebe dieses Bild. Es ist im Original zu sehen in der Ausstellung zu Surrealismus und deutscher Romantik mit dem etwas bescheuerten Titel „Rendezvous der Träume“, die Begegnung der beiden Stilrichtungen funktioniert nicht so richtig, die lauten, selbstgewissen Surrealist*innen - zu 75% Max Ernst - knallen alles weg, die Romantiker nimmt man gar nicht richtig wahr. Aber der Hausengel ist einfach großartig. Der eine Pferdehuf, der ihn erdet, die wirbelnde rot-rosa-grüne Leere in seiner Leibesmitte, der kleine grüne Drachen-Sidekick, man weiß nicht, versucht er ihn zurückzuhalten oder wurde er gerade aus ihm geboren, der Vogelrindsskelettkopf im blinden Schrei, die exaltiert aufgeworfenen Arme und Hände. So einen Engel braucht man zu Hause im eigenen Kopf, so triumphiert der Surrealismus richtig.

Für den Kunstgenuss hatte ich ein 3-Tages-Ticket für die sogenannte Kunstmeile, die wichtigsten Museen in einer Gehweite von wenigen hundert Metern, sehr empfehlenswert, preislich günstig und praktisch. Damit ging ich auch in die Deichtorhallen und erlebte Katharina Grosses buntes Wunderwerk im einzig angemessenen Ausstellungsdesign, nämlich in sehr hoch und sehr groß.

Man kann die Künstlerin auch ein Video lang dabei beobachten, wie sie in weißem Schutzanzug und Atemschutzhelm ihre Bilder malt, wie sie grelle Farben mit einem langen Stab aus einem Kompressor auf die Leinwände sprüht, immer und immer wieder neue Farbtöne, neue Linien und Flächen, übereinander, nebeneinander, in ähnlichen Mustern, mit großer Geste, pure process. Unwillkürlich fragt man sich, ist da nicht mehr dran an dieser Kunst, ist das alles, das kann ja wohl wirklich jede*r, ja, aber in dieser Ernsthaftigkeit und Größe und Auffälligkeit macht das eben nur sie. Es ist erstaunlich beruhigend ihr zuzusehen, ist es zielgerichtet oder zufällig und macht das überhaupt einen Unterschied, ich bleibe ziemlich lange sitzen und sehe zwei Loops, bis ich solche Fragen nicht mehr stelle.




Hamburg ist auch eine sehr grüne und luftige Stadt, der motorisierte Individualverkehr steht gefühlt etwas weniger im Zentrum allen Verkehrsgeschehens als in Wien, die Luftigkeit ist bestimmt auch dem vielen Wasser geschuldet. Warum so viele Tourist*innen die teuren Hafenrundfahrten buchen, wenn man die Elbfähren auch einfach mit einem Nahverkehrsticket nutzen kann, weiß ich nicht genau, ich fuhr jedenfalls eine Runde stromabwärts, machte einen Stopp am Elbstrand, bewunderte Menschen, die tatsächlich bereit waren, in diesem Wasser zu baden und beobachtete ein Container- und ein Kreuzfahrtschiff beim Bugwellen Machen.
Wirklich wunderschön ist der Park Planten un Blomen, am besten und stilvollsten angelegt ist der älteste Teil, der Alte Botanische Garten.



Im neueren Teil sind im zentralen Teich Wasserdüsen eingebracht und allabendlich im Sommer finden dort bei freiem Eintritt Wasserlichtkonzerte statt. Ich kam dort eine halbe Stunde vor Beginn an und fand bereits sicher einige hundert Tourist*innen aber auch viele Hamburger Pärchen und Familien aus allen sozialen Schichten und Hintergründen vor, die auf Decken oder Klappstühlen in den Wiesen saßen und mit diversen Getränken und Snacks ausgestattet auf den Beginn des halbstündigen Spektakels warteten. Das war so entzückend altmodisch und egalitär, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
Und selbstverständlich war ich auch in der Elbphilharmonie, wenn ich schon mal da bin. Ich fuhr bewundernd gebogene Rolltreppe (ich hatte ja gedacht, sie sei horizontal gebogen, nicht vertikal, das wäre technisch noch viel beeindruckender gewesen und wahrscheinlich noch viel teurer gekommen), ich bewunderte die Rundum-Aussicht, ich bewunderte den bienenkorbartigen Konzertsaal.
Seun Kuti, der Sohn von Afrobeat-Legende Fela Kuti, und seine Band Egypt 80 heizten uns ein, das war toll, ich saß auf einem nicht so teuren Platz hinter der Band, ob die Akustik gut oder schlecht war, kann ich doch bitteschön nicht beurteilen, ich verstand ungefähr, was er sang und sagte.

Ein wenig anachronistisch war nur, dass er sich selbst als working class musician bezeichnete („You are not here because of me, I am here because of you!“) und das im teuersten Konzertsaal der Welt, hmnja, so viele Implikationen, ich hatte dann gar keine Lust weiter darüber nachzudenken, sondern stand auf aus meinem bequemen Konzertsaalsessel und tanzte ein bisschen gemeinsam mit anderen, gar nicht mehr so nüchtern-sachlichen Hamburger Konzertbesucher*innen.