Schmerzen

Plötzlich tut etwas weh. Die linke Hand namentlich. Wenn ich die Handfläche nach oben drehe und dabei etwas halten, nehmen oder abstellen will, verlässt mich die Kraft und ich schreie unvermittelt auf. In der Kantine beim Abstellen des Tabletts zum Beispiel. Alle zeigen Mitgefühl. Ich nehme zur Stabilisierung eine Manschette, die ich vor Jahren mal beim Kaffee- und Glumpertvertrieb unseres Vertrauens impulsgekauft habe.

Vor zwei Wochen beim Singtermin erzählte der Kollege von seiner Frozen Shoulder und ich hörte interessiert zu, nicht ohne am Ende voller egoistischer Freude über meinen (zu diesem Zeitpunkt) Top-Gesundheitszustand anzumerken, dass mir ja nichts wehtäte, gar nichts.

Ein Fehler, denn neben der Hand tut mir heute auch der Kopf weh. Wahrscheinlich nichts Ernstes, nur ein paar Tage schlecht geschlafen, ein wenig verspannt, ein wenig überlastet. Kopfschmerzen können ja sehr unterschiedlich sein, mal eher dumpf, mal stechend, in verschiedenen Regionen des Kopfes. Diese fühlen sich an, als zögen sich pochende Adern über die gesamte Kopfhaut. Aber ich kann mich nicht ins Bett legen und mich dem Schmerz ergeben, ich habe für den anstehenden Singtermin gekocht und man rechnet mit meinem Essensbeitrag. Ich muss zumindest kurz auftauchen und sehen, wie es mir dann geht und ob ich bleiben und mitsingen kann.

Bevor ich aufbrechen muss, nehme ich eine Tablette und lege mich doch kurz zum Ausruhen hin. Ein Ausschnitt eines berühmten Gebets fällt mir wieder ein, das einmal Teresa von Ávila und dann wieder einer ungenannten Ordensfrau im 17. Jahrhundert zugeschrieben wird:

„Lehre mich Schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu, und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.“

Haha, vor vielen Jahren erstmals gelesen, damals noch gönnerhaft gedacht, jaja, wenn die Alten doch nicht ständig jammern würden über ihre Wehwehchen. Aber wenn sie dann erst da sind, die Beschwerden, wie einschränkend und beeinträchtigend sind sie, wie sehr hindern sie eine daran, zu funktionieren, zu tun, was man gerne tut, das Leben zu genießen. Wie sehr beherrschen sie das Denken und Fühlen, wie wenig Platz ist noch daneben für alles Schöne und Leichte. Wie sehr führen sie einer vor Augen, dass das Leben endlich ist, dass der wunderbare Zustand der Schmerzlosigkeit nicht von Dauer sein kann und zu erwarten ist, dass ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben jeder schmerzfreie Moment ein Geschenk ist. Bis das bisher gekannte Leben kulminiert in körperlicher Schwäche und geistiger Zurückgezogenheit und man ertrinkt in einem Meer aus Schmerzen (bestenfalls abgeschwächt mit der Hilfe von Analgetika und Sedativa).

Man möge mir verzeihen, dass ich ein wenig dramatisiere, aber es ist ja mein Beruf. Jeden Tag erlebe ich Menschen beim Ertrinken im Meer. Es gehört für mich zum Dünnhäutigkeitszustand dieser Zeitenwende, dass ich mir fast täglich überlege, wie ich und meine gleichaltrigen Lieben in diesem Meer schwimmen werden, wie lange und wie analgetisch sich dieser Abschnitt für uns gestalten wird, mit wieviel Hilfe voneinander und von Professionist*innen wir dabei rechnen können.

So daliegend und den Schmerz beobachtend kann ich kurz sogar Hypochonder verstehen. Vor meinem inneren Auge entfaltet sich das Szenario eines plötzlichen schweren Einschnitts, Bewusstlosigkeit unterwegs in der Straßenbahn, Rettungseinsatz, zu verständigende Angehörige, die aus allem was sie kennen, herauskatapultiert werden, hat nicht die eine Patientin auch über Kopfschmerzen geklagt, sich kurz hingelegt und dann eine Hirnblutung gehabt? Ist nicht die Cousine eines Tages plötzlich und vorwarnungslos an einem geplatzten Aneurysma gestorben? Hoffentlich bringen sie mich dann schnell genug ins Krankenhaus oder soll ich mir lieber wünschen, dass sie es nicht schaffen, die Patientin mit den Kopfschmerzen lag ein paar Jahre im Wachkoma bei uns, wie verlockend ist diese Aussicht?

Fakt ist, du weißt gar nichts. Du kannst dich vor nichts schützen. Es kann immer alles sein, alles vorkommen. Wenn man das konsequent zu Ende denkt und fühlt, kann man entweder verzweifeln und sich gleich „hamdrahn“, wie man in meiner geliebten Heimatstadt sagt, sich heim drehen (nach Hause wenden?). Oder man denkt lieber nicht zu viel drüber nach und macht einfach weiter, freut sich, dass es in diesem Moment mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht so weit sein wird.

So ist es natürlich auch diesmal. Im Liegen atmet es sich besser, ich stelle fest, das Tönen hilft. Bei jedem Ausatmen töne ich ein kleines bisschen und entlasse den Schmerz etwas mehr aus meinem Kopf. Das Singen wird mir voraussichtlich guttun. Ich stehe auf, packe das Essen ein, fahre hin bei zuverlässiger Vigilanz. Wir singen unter anderem dieses Lied im wunderschönen vierstimmigen Arrangement, (wie ich später beim Recherchieren des Textes feststelle, einfach das Vater Unser auf Swahili):

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