Schmerzen II
Ich wollte eigentlich erst über das Ding schreiben, wenn ich es mindestens zehn Mal benutzt habe. Sie kennen das vielleicht, neue Gebrauchsgegenstände können anfangs viel verheißen und eine Begeisterung auslösen, die dann aber doch nicht von Dauer ist. Ich bin erst beim fünften Mal, habe aber doch schon Wesentliches zu berichten und lege auch Wert auf die Feststellung, dass ich mir das Ding gar nicht selbst ausgesucht habe. Ich bekam es nämlich zum Geburtstag geschenkt, von der Person, die mich auf der Welt am längsten kennt und womöglich auch am ehesten so sieht und nimmt, wie ich bin. Nun also, was sagt das nun über uns aus, dass sie mir so etwas zu einem wichtigen landmark-Geburtstag schenkt, ich überlasse das Ihrem Urteil.
Wir sprechen von einem Nagelbrett. Im übertragenen Sinne. Ich weiß noch, dass mich das als Kind entsprechend schockiert hat. Wie ist es möglich, dass sich Menschen auf Spitzen legen und das erstens überleben und zweitens diese haarsträubende Praxis mit einem gewissen Ziel und Zweck verbinden? Sofort tauchen vor meinem inneren Auge wieder die Comics auf, in denen Fakire auf solchen Nagelbrettern liegen und dabei passende Grimassen schneiden, die ihre exotische und dazu noch leicht unzurechnungsfähige Natur unterstreichen.
Im 21. Jahrhundert ist es natürlich kein Brett, sondern eine Schaumgummimatte von der Länge eines Torsos, auf die ca. 20 Reihen von 10 harten runden Plastikstücken mit regelmäßig geformten Spitzen geklebt sind. Der Markenname verweist wohl auf das Sanskrit-Wort für die weibliche Urkraft des Universums plus englischer Matte, ich verlinke das jetzt nicht, denn natürlich krieg ich von denen kein Geld, Sie finden das selbst heraus, es ist ja auch recht bekannt durch die lästige Werbung auf Social Media. Diese Spitzen sind nun tatsächlich spitz. Auf der nackten Haut tut das weh. Und selbstverständlich wird empfohlen, die Anwendung so weit wie möglich auf der nackten Haut zu vollziehen.
Beim ersten Mal trage ich dennoch ein T-Shirt und finde das Ganze nicht besonders spektakulär. Beim zweiten Mal trage ich nur einen Sport-BH und verstehe plötzlich alles, was die junge Frau im Erklärvideo gesagt hat, z.B. dass es 5-10 Minuten dauert, bis es nicht mehr wehtut und dass man sich auf eine bestimmte Weise hinlegen und dann wieder aufsetzen soll. Nach diesem Mal weise ich die Tochter an, ein Foto von meinem Rücken zu machen, um herauszufinden, ob man etwas sieht. Ich möchte diesen Anblick meiner Rückansicht hier nicht öffentlich machen, nur so viel: Als ich das Foto kommentarlos dem Mann schicke, ruft er umgehend zurück und fragt, ob wir wegen dem Ausschlag sofort ins Krankenhaus fahren sollen.
Wesentliches Element dieser Erfahrung ist, dass man sie aushält bis zum Schluss. Ich stelle mir dazu einen Timer, denn die Zeit dehnt sich und scheint sehr langsam zu vergehen. Der Anfangsschmerz allerdings verändert sich allmählich, man achtet auf tiefe Atemzüge und verspürt den leicht gesteigerten Kreislauf trotz der Ruheposition, man fühlt das Blut stärker an den aufliegenden Stellen pulsieren, nach den erwähnten 10 Minuten ist der Schmerz sehr viel schwächer und durch das zusätzliche Blut, das sich unter der Haut sammelt, scheint man wie auf einem dämpfenden Kissen zu liegen. Nur eine leichte Lageveränderung lässt den Schmerz an neuen, nicht bereits gewöhnten Stellen wieder aufleben. Dazu lassen sich die zuvor aufgestellten Beine leicht zur Decke anheben, das spürt der untere Rücken, dann lassen sich die Beine lang ausstrecken, das spüren die Schultern und das Becken. Nach 20 Minuten meldet der Timer und man rollt sich ab. Die gute Durchblutung pulsiert noch einige Zeit weiter durch den ganzen Körper, eine angenehme Wärme im Rücken und mehr Wachheit und Konzentration sind dauerhafte Nebeneffekte.
Zweimal liege ich seitdem noch auf der Matte, weil ich mich müde und abgespannt fühle und stehe tatsächlich erfrischt auf, richtig erquickt, ich habe wieder Energie für den Rest des Tages. Und heute dann bekomme ich wieder diese lästigen Kopfschmerzen, die mich schon die letzten beiden Tage gequält und an jeder schönen Wochenendaktivität gehindert haben, die seit dem Morgen sehr viel besser waren und plötzlich abends wieder da sind. Eine Weile massiere ich an den Schläfen herum und werde das Gefühl nicht los, dass es ganz einfach sein müsste, die Schmerzen wieder wegzubekommen, sie irgendwie auszuleiten aus dem Körper. Und da fällt mir die Zaubermatte wieder ein und als ich meine nackten Schultern darauf sinken lasse, wird mir klar, das ist es: Schmerzen mit Schmerzen bekämpfen. Neue Schmerzen generieren, die die Konzentration von den alten Schmerzen ablenken. Und atmen. Und ein bisschen tönen beim Ausatmen, ein bisschen Klagen scheint gerade angebracht zu sein. Und Ruhe geben. Und tatsächlich, es klappt, nach ein paarmal Polster richten und Kopf drehen und atmen und Blutpolster spüren und weiteratmen stehe ich wieder auf und das Kopfweh ist weg. So gut wie weg. Im Hintergrund, wo es hingehört und nicht mehr stört, nur noch auf die Mütze voll Schlaf später wartet.
Das macht mich sehr zufrieden und daher empfehle ich hiermit diese Matte. Oder auch nur das Prinzip. In der nicht allzu fernen Zukunft werde ich mich noch weiter und wieder einmal mit dem Prinzip Askese und Selbstherausforderung beschäftigen, da könnte diese Matte außerordentlich gut dazu passen.