Teenager
Das Teenager-Kind kam gestern Nacht nach Hause, mit einer Freundin von einer Geburtstagsfeier, das erste Mal für mich erkennbar angetrunken. Eigentlich darf ich gar nichts davon schreiben, da ich damit ihre Persönlichkeitsrechte verletze, sie würde schon diese paar Zeilen als unerhörtes Eindringen in ihre Privatsphäre betrachten, zum Glück liest sie den Blog ihrer Mutter nicht. Jedenfalls war ich erstaunt, wie anders ihre Stimme klang, wie kindlich plötzlich wieder, wo sie doch sonst in letzter Zeit mit betont abgeklärtem Gestus jede Äußerung, Stellungnahme und Entscheidung ihrer Eltern als uninformiert und ungenügend verwirft und selbstverständlich selber viel besser weiß, wie alles sitzt, geht und läuft. „Ich muss jetzt dann aber wirklich schlafen“, rief sie ihrer Freundin zu, fast schon ein wenig verzweifelt angesichts ihres altered state, und ich, auch bereits im Bett liegend, musste einen so plötzlichen wie nicht unterdrückbaren Lachanfall mit der Decke abdämpfen, weil ich realisierte, sie ist doch noch fast ein Kind, es ist noch früh im Leben für sie, es ist alles noch ganz neu.
Mit 16 Jahren war ich bereits ziemlich oft betrunken gewesen. Es war damals sehr einfach, auf Parties oder in Clubs zu kommen, Alkohol wurde großzügig ausgeschenkt, nie wurde ich nach meinem Alter gefragt, ich habe mir nicht mal die Mühe gemacht, meinen Ausweis zu fälschen. Mit 16 Jahren lebte ich völlig frei und unbeaufsichtigt. Meine Mutter war schleichend aus unserer winzigen Wohnung („Garconnière“ sagte man damals gerne: 1 Wohn-Schlaf-Ess-Raum, 1 schmaler Küchenschlauch, 1 Mini-Bad, für mich 1 extra Mini-Kabinett, in das nur ein Bett passte) ausgezogen. Natürlich nicht komplett. Sie kam zweimal die Woche und brachte mir Lebensmittel. Sie hatte eine ältere Nachbarin beauftragt, ein paarmal die Woche in die Wohnung zu kommen, während ich in der Schule war, um aufzuräumen und die Wäsche zu machen. Ich war also nicht vergessen worden und wurde versorgt. Aber sie war nicht da, sie lebte mit ihrem aktuellen Lebensgefährten in dessen Wohnung. Das war nie vereinbart worden, nie angekündigt, besprochen oder abgewogen, sondern es passierte einfach, sie übernachtete bei ihm, einmal, zweimal, mehrere Male hintereinander und am Ende schlief sie nur noch dort und nicht mehr da.
Man muss das richtig einordnen. Ich hatte mich davor schon mit meiner ersten Jugendliebe (ich war wirklich sehr jung, knapp 14) in einer anderen Familie heimisch eingerichtet, ich mochte dessen Mutter, die mir in so ziemlich allen Aspekten cooler und interessanter schien als meine, und verbrachte praktisch meine gesamte Freizeit mit ihm und bei ihnen. Und meine Mutter war gerade einer, heute würde man kurz und bündig sagen, toxischen Beziehung entkommen, leider war sie nicht geschickt bzw. vor allem einkommensstark genug, um sich dieser Toxizität endgültig zu entziehen, unsere Wohnung gehörte nämlich besagtem Toxenmann und damit konnte dieser weiter Macht und Kontrolle über unser Leben ausüben. Dass ein anderer Mann in dieser Wohnung übernachtete, hatte Anlass zu Streit und Drohungen gegeben, was blieb meiner Mutter also übrig, um die neue Beziehung weiterzuführen. Das Teenager-Kind schien eine neue Familie gefunden zu haben, also konnte sie das auch versuchen. Sie wollte nur auch und wahrscheinlich nichts mehr auf der Welt als irgendwo aufgehoben sein. Das hat ihr immer gefehlt und danach hat sie immer gesucht, vornehmlich bei Männern.
Schwierig wurde es für mich, als in der Jugendliebe der Spagat zwischen Familienersatz und aufkeimender Sexualität nicht mehr gelang. Wir machten Schluss. Ich verlor die neue Familie. Aber meine Mutter war immer noch weg. Ich war allein. Ich weinte viel. Ich begann zu schreiben. Ich ging aus, jedes Wochenende in die gleichen paar Clubs bis zum Morgengrauen, ich trank und kiffte, ich suchte meinerseits einen neuen jungen Mann, der mir wieder Zuhause sein sollte, natürlich konnte und wollte keiner der von mir auserkorenen Kandidaten diese Aufgabe übernehmen. Nebenbei ging ich brav weiter in die Schule und absolvierte meine Prüfungen im obersten Drittel des Klassenleistungsspektrums, aber sozial war ich ein Outcast, niemand (bis auf BFF N., die damals glücklicherweise in mein Leben trat und es nie mehr verlassen hat) konnte nachvollziehen, welche seltsamen Prozesse bei mir zu Hause vor sich gingen. Ich war irgendwie auch stolz darauf, nicht so spießig zu sein wie die Kids aus den gutsituierten Ärzte- und Juristenfamilien, in deren Nobelbezirksschule ich gerutscht war.
Ich denke heute nicht mehr oft an diese Zeit zurück, aber wenn ich es tue, habe ich großes Mitleid mit diesem einsamen Mädchen, das da so ohne Halt und Orientierung herumeierte. Als meine eigenen Kinder ins Teenager-Alter kamen, realisierte ich erst, wie unnormal der Zustand damals eigentlich war: Nur weil ein junger Mensch den Alltag endlich allein bewältigen kann, was Selbstorganisation und rudimentäre Haushaltskenntnisse betrifft, heißt das nicht, dass er es tun müssen sollte. Ich war damals phasenweise sehr verzweifelt und verstand gleichzeitig nicht völlig, was mich eigentlich so traurig und einsam machte, denn ich genoss natürlich auch die Freiheiten, die fast niemand in meinem Alter hatte. Unnötig zu sagen, dass diese Vorgänge das Verhältnis zu meiner Mutter sehr verschlechterten. Als sie genug vom Heilsbringer-Lebensgefährten dieser Zeit hatte, kehrte sie nämlich doch zurück und wir zogen gemeinsam weg in eine andere Wohnung, während meiner letzten beiden Schuljahre lebten wir wieder zusammen. Aber ich konnte sie nie wieder als Mutter ernstnehmen, sie hatte keinerlei Autorität oder erzieherische Legitimität mehr. Sobald ich die Schule abgeschlossen hatte, zog ich so schnell es nur ging endgültig von ihr weg, das Verhältnis blieb unterkühlt. Ich erfuhr später, dass sie selbst als Teenager sehr traumatische Erfahrungen gemacht hatte, im Rückblick kann man sagen, dass diese Erlebnisse sie so nachhaltig psychisch beeinträchtigt haben, dass sie nie wieder ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Sie lebt inzwischen schon eine ganze Weile nicht mehr.
Was nun mich selbst als Mutter betrifft: Ich stehe vor dem Problem, dass ich das Gefühl habe, alleine dadurch, dass ich immer dageblieben bin und den Kindern eine unveränderte Lebenskonstellation während ihrer ganzen Kindheit und Jugend sichern konnte, schon mein Bestes als Elternteil getan zu haben. Vielleicht hätte ich noch mehr tun müssen, sie mehr leiten und führen, mehr Druck ausüben, mehr steuern. Vielleicht mache ich es mir zu leicht, wenn ich das mutmaße, aber die Persönlichkeiten meiner Kinder schienen einen solchen Erziehungsstil eher zu erschweren. Der eine, scheu und zurückhaltend, wie er ist, hätte sich noch mehr in sich zurückgezogen, die andere, kratzbürstig und eigensinnig, hätte (und hat!) sich mit allen Kräften gegen jede Art der Beeinflussung gewehrt. Wie auch immer. Ich habe es gemacht so gut ich konnte. Ich habe es möglichst vermieden das zu wiederholen, unter dem ich selbst gelitten habe. Dafür habe ich vermutlich einiges getan, unter dem sie gelitten haben werden. Kinder erziehen heißt scheitern, immer. Irgendwas macht man auf alle Fälle falsch.