Vom Allein-Sein
Es ist so eine Sache mit dem Allein-Sein. Die Sehnsucht danach ist riesengroß. Wirklich sehr groß. Wenn man so ein Menschenmensch ist. Menschen im Beruf, die man koordiniert und herumschickt, die dann im weiteren Verlauf wie an einem Gummiband wieder an eine zurückbouncen, weil sie was brauchen, weil sie was wissen wollen, weil sie sich über was beschweren wollen. Dann, in recht ähnlicher Weise, Menschen in der Familie, die man sehr mag oder sogar liebt, die man zum Teil sogar selbst geboren hat, und die dann im weiteren Verlauf wie an einem Gummiband an eine zurückbouncen, weil sie Hunger haben, weil sie sich mit etwas (noch) nicht ganz auskennen, weil sie über ihre Gedanken reden wollen. Alle diese Menschen, ich kann Ihnen sagen, kennen Sie die Verfilmung von „Jesus Christ Superstar“? Als der arme Jesus versucht, all die bedürftigen Leprakranken zu heilen, „see my eyes, I can hardly see, see me stand, I can hardly walk, I believe you can make me whole”? Ja, ich vergleiche mich hier in blasphemischer Weise mit Jesus Christus, der Retter der Welt musste die gesunde Abgrenzung in Sozialberufen offenbar auch erst lernen, mir geht’s genauso, jeden Tag, andere unterstützen einerseits, dabei aber Menschen ihre Selbstwirksamkeit nicht nehmen, sondern sie selbst machen und rausfinden lassen, was sie können, es ist ein schwindelerregend schmaler Grat aber wichtig, um sich nicht auffressen zu lassen. Daher, ein paar Stunden allein zu Hause sind ein Geschenk und am allerliebsten gehe ich allein irgendwo hin. Ich mit mir selbst, mit einer Begleitung, die ich wirklich sehr schätze, weil sie nicht reden will. Ich bin dann sehr zentriert und entspannt, ich kann schauen, denken, hören, fühlen und niemand fragt mich was.
Ich gehe dazu gerne in die Albertina, zum Schauen. „Letzte Zuflucht Malerei“, ein paar Werke Van Goghs neben Matthew Wong, was haben diese beiden Künstler gemeinsam, außer Pointillismus und Primärfarben, ach ja, sie waren beide allein und unglücklich und haben sich am Ende suizidiert, ich finde diese Kurator*innenidee ein bisschen pietätlos und billig und laufe kurz durch. Jeder der vielleicht fünf Van Goghs, schwach beleuchtet aus konservatorischen Gründen, hat mehr Tiefe und Sogwirkung als alle Bilder des anderen Künstlers zusammen, die starken Kontraste, der sichere Strich, die Atmosphäre, die sich beim Zurücktreten ergibt, die Präzision, wenn man sich vorbeugt ans Sicherheitsglas. Man beachte die überall angedeuteten Körperteile in diesem Bild, das Profil am Rot, der Fuß im Eingang, die Spalten, die Furchen, die grünen Wuschelpflanzenhaare allüberall.

Dagegen hier ein bißchen Gischt.

Ich gehe auch durch die aktuelle Bearbeitung der Grafiksammlung, Leonardo und Dürer auf gefärbtem Papier, es ist etwas herausfordernd, weil die Blätter sehr klein sind, ich hätte eine Brille mitnehmen sollen. Sehr alte Dinge anschauen immer ehrfurchtgebietend, dieses Blatt ist tatsächlich das Original aus dem 16. Jahrhundert, im Passe-Partout und hinter Glas vermutlich seit dem 19. Jahrhundert, es sind in der Mehrzahl Körper- und Gewandwurfstudien für spätere Gemälde.


Und dann laufe ich noch kurzentschlossen, ich bin eigentlich schon ausgeschaut, durch die Sammlung Batliner, von Monet bis Picasso, angefangen mit den hübschen Impressionisten, die mich immer so im Inneren anrühren, weiß nicht, wie’s Ihnen da geht, aber ich gehöre wohl zum diesbezüglich konventionell-dankbaren Publikum. Ich war in diesem Teil der Albertina schon lange nicht mehr, weil man dort sonst die Bilder vor lauter Tourist*innen-Pulks kaum sieht, gestern kurioserweise nicht, es war kaum was los und direkt luftig vor lauter Platz und Raum, vielleicht weil es schon gegen die Schließzeit hin war. Merk ich mir für den nächsten Besuch, spät kommen, gleich raufgehen.
Und weil es so praktisch nahe ist, im selben Gebäude sogar, noch mehr Schauen und Hören im Filmmuseum zur aktuellen Retrospektive „Planet Hongkong“, ganz nett eigentlich, wenn die geliebten Filme der eigenen frühen Erwachsenenjahre geballt wieder gezeigt werden und man jetzt Zielgruppe ist, Volltreffer, da hab‘ ich die nächsten zwei Monate immer wieder gut zu tun hier. Heute mein Start mit der entzückend-aberwitzigen „A Chinese Ghost Story“, der Profi-Cineast neben mir stöhnt wegen der Qualität der 35mm-Kopie und macht jedes Mal „aaawww!“, so oft der love interest auftaucht, er hätte wohl gern mit mir angebandelt und schenkt mir zu diesem Behufe ein Hustenzuckerl, aber ich bin ja allein hier und du riechst so stark nach Rauch, danke aber sorry, lieber Cineast.