Watching: Rumours (Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson)
Achtung, hier wird mal wieder Handlung und Ende gespoilert!
Die Staats- und Regierungschefs der G7 sitzen im Wald eines deutschen Schlösschens in einer Pagode an einem fein gedeckten Tisch und sind dabei, die vorläufige Abschlusserklärung zu dem Treffen zu entwerfen, als alles aus dem Ruder läuft. Die Telefone sind tot, niemand kommt auf ihr Klingeln, es wird dunkel, sie sind völlig auf sich allein gestellt.
Allzu Menschliches kommt zum Vorschein, der kanadische Premier ist ein sensibler, aber doch viriler Schönling, der schon mal was mit der britischen Premierministerin hatte, jetzt hat es die deutsche Kanzlerin auf ihn abgesehen. Der amerikanische Präsident ist müde und abgeklärt und hat eigentlich auf nichts mehr so richtig Lust, während der italienische Regierungschef weder Stift noch Handy bei sich hat. Der Franzose ist, nun ja, französisch leidenschaftlich, während der Japaner, nun ja, japanisch zurückhaltend ist. Doch nun müssen die Damen und Herren mit der Krise umgehen lernen, nicht nur mit der unspezifizierten Krise, über die sie schreiben müssen, sondern mit der ganz persönlichen Krise einer dunklen Nacht in einer feindlichen Umgebung mit unklarem Ausweg.
Nur so viel, auch schlammfarbene gummiartige Moorleichen sind von Anfang an mit dabei und bringen sich irgendwann auch leidenschaftlich zum Ausdruck. Dann aber stolpert der Kanadier mitten im Wald über ein Gehirn von der Größe eines Kleinwagens, daneben die Präsidentin der Europäischen Kommission, die eigentlich niemand so richtig dabeihaben wollte und die verwirrt wirkt und nur noch schwedisch spricht. Das Gehirn, so wird gemutmaßt, könnte von einem Wal sein, so groß wie es ist, aber es hat die typische Kopfform, es ist rosa und offenbar irgendwie lebendig, es sieht aus und fühlt sich an wie ein menschliches Gehirn.
Ich fand diesen Regieeinfall ja ein bisschen dämlich. Alles davor war horrorkomödienmäßig irgendwie erklärbar, die Dunkelheit, die unheimlichen Geräusche, die desintegrierenden Moorleichen, alles ein bisschen unheilverkündend, alles auch mit witzigen Einfällen für erleichterte Lacher verquickt. Aber warum das Gehirn? Ein übergroßes Gehirn, das die schwedisch sprechende Präsidentin schließlich zärtlich umarmt und dann in Brand steckt, während sie drauf sitzt, in einem Fanal damit verbrennt?
Dann, nach dem Film zu Hause, noch ein wenig in Gedanken über diese abgedrehte Komödie, falle ich durch einen Social-Media-Post (Danke an @dasgrueneblatt!) in ein Rabbit Hole, das ich nur ein wenig anzulesen brauche um festzustellen, dass es das Gedankenexperiment des Boltzmann-Gehirns gibt. Die vollkommene Abstrusität dieses Konzepts schlägt alles, was man satirisch darstellen kann:
„Boltzmann folgerte unter Annahme der Ergodenhypothese in der Thermodynamik, dass es in einem unbeschränkten Zeitraum innerhalb eines statischen Universums nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich sei, dass sogar aus dem thermodynamischen Gleichgewicht, einem maximal gleichförmigen Zustand des Universums mit maximaler Entropie, ein Boltzmann-Universum entsteht, in dem, das anthropische Prinzip vorwegnehmend, möglicherweise auch ein denkendes Gehirn wie seines vorkommt, das diese Betrachtungen anstellt.
Das Boltzmann-Gehirn ist eine Reductio ad absurdum dieser Vorstellung, bis hin zu dem Punkt, dass es ausschließlich dieses Gehirn geben muss und alles außerhalb dieses Gehirns eine Illusion sein könne, und diese Hypothese sogar viel wahrscheinlicher sei als eine Realität mit vielen denkenden Gehirnen in einem komplexen strukturierten Universum. Der absurde Aspekt dieser Vorstellung liegt dabei darin, dass es nach der Reduktion gar kein über das Gehirn hinausgehendes Universum mehr geben muss, über dessen Entwicklung das Boltzmann-Gehirn nachdenken müsste.“
Nun würde ich mir niemals anmaßen, das zu verstehen. Physik hat mich in der Schule schon nicht sonderlich interessiert, ich bin davon ausgegangen, dass ich niemals einen Beruf ergreifen werde, wo ich dieses Wissen auch nur im Ansatz brauche. Aber ich fände es ehrlich gesagt ein bisschen inkonsequent, um nicht zu sagen feig von den Physiker*innen seitdem, dieses Gehirn nicht zumindest versuchsweise Bewusstsein oder Gott zu nennen, aber vielleicht machen sie das ja, wenn sie bei einem Gläschen Wein nach ihren Konferenzen zusammensitzen.
Jetzt weiß ich also von diesem Gehirn, das mutmaßlich uns denkt und schließlich maximale Entropie durch die Zufuhr von Wärme erfährt. Naheliegend der Gedanke, dass es uns, in Gestalt dieser paar Frauen und Männer, auch nicht mehr gibt, zumindest können wir uns dessen nicht mehr sicher sein. Denn als sie tatsächlich am Ende des Films wieder ins deutsche Schlösschen zurückfinden, in ihren Goodiebags Zyankalikapseln mit Ikea-Piktogramm-Anleitung finden und schließlich in Rettungsgoldfoliencapes stolz auf dem Balkon stehen, während der Kanadier eine absurd-treffende Abschlusserklärung deklamiert, ist da niemand mehr, der zuhört. Außer den Moorleichen.